Scripta Varia 121: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Art und Weise, wie menschliche und nichtmenschliche Primaten Werte zuordnen und Entscheidungen treffen, kann auch mit einer Reihe von Gehirnregionen zusammenhängen, die eine prospektive Bewertung der Konsequenzen von Handlungen auf mehreren Ebenen ermöglichen. Einige dieser Bereiche, die rein imaginäre und neuartige Entscheidungen bewerten können, sind die Gehirnbereiche, die beim Menschen im Vergleich zu anderen Primaten am weitesten entwickelt sind, was auf eine erweiterte Funktionalität des Bewertungs- und Entscheidungssystems während der Evolution der Homininen schließen lässt. Die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung weist eine interindividuelle Variabilität auf, die mit Neurotransmitterkonzentrationen und der funktionellen Konnektivität zwischen Gehirnregionen und Netzwerken korreliert werden kann. Im einen Extremfall weisen süchtige Personen ein massives Ungleichgewicht in den dopaminergen Netzwerken auf, das ihr gesamtes Entscheidungssystem auf den Drogenkonsum ausrichtet und gleichzeitig ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle untergräbt. Das Verständnis dieser Kreisläufe eröffnet die Möglichkeit einer zukünftigen Behandlung, indem es die Funktionsweise des Bewertungssystems wiederherstellt und die Selbstkontrolle stärkt.
Die Art und Weise, wie menschliche und nichtmenschliche Primaten Werte zuordnen und Entscheidungen treffen, kann auch mit einer Reihe von Gehirnregionen zusammenhängen, die eine prospektive Bewertung der Konsequenzen von Handlungen auf mehreren Ebenen ermöglichen. Einige dieser Bereiche, die rein imaginäre und neuartige Entscheidungen bewerten können, sind die Gehirnbereiche, die beim Menschen im Vergleich zu anderen Primaten am weitesten entwickelt sind, was auf eine erweiterte Funktionalität des Bewertungs- und Entscheidungssystems während der Evolution der Homininen schließen lässt. Die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung weist eine interindividuelle Variabilität auf, die mit Neurotransmitterkonzentrationen und der funktionellen Konnektivität zwischen Gehirnregionen und Netzwerken korreliert werden kann. Im einen Extremfall weisen süchtige Personen ein massives Ungleichgewicht in den dopaminergen Netzwerken auf, das ihr gesamtes Entscheidungssystem auf den Drogenkonsum ausrichtet und gleichzeitig ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle untergräbt. Das Verständnis dieser Kreisläufe eröffnet die Möglichkeit einer zukünftigen Behandlung, indem es die Funktionsweise des Bewertungssystems wiederherstellt und die Selbstkontrolle stärkt. (307)}}


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{{Zitat|Wissen ist beim Lernenden bereits auf aktive Weise vorhanden, nicht passiv, wie es im Allgemeinen in der Materie der Fall ist. Andernfalls wäre der Mensch nicht in der Lage, sich Wissen selbst anzueignen. Daher gilt: „Wenn im Subjekt etwas bereits in aktiver, vollendeter Potenz existiert, handelt der äußere Akteur nur, indem er dem inneren Akteur hilft“ (Thomas von Aquin, De Magistro – De Veritate, 11, 1). (309)}}
{{Zitat|Wissen ist beim Lernenden bereits auf aktive Weise vorhanden, nicht passiv, wie es im Allgemeinen in der Materie der Fall ist. Andernfalls wäre der Mensch nicht in der Lage, sich Wissen selbst anzueignen. Daher gilt: „Wenn im Subjekt etwas bereits in aktiver, vollendeter Potenz existiert, handelt der äußere Akteur nur, indem er dem inneren Akteur hilft“ (Thomas von Aquin, De Magistro – De Veritate, 11, 1). (309)}}
{{Zitat|Interdisziplinäre Konvergenz und ihre Schwierigkeiten<br>
Eine der komplexesten Fragen im interdisziplinären Ansatz ist die Klärung der oft unterschiedlichen Bedeutungen, die ein Wort bei der Verwendung in den verschiedenen Disziplinen haben kann. Beispielsweise ist die Analyse des „Selbst“ ein bevorzugtes Thema für die Interaktion zwischen Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie und spiegelt die unterschiedlichen Traditionen und Kompetenzen dieser Disziplinen wider. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich des erkenntnistheoretischen Status des Untersuchungsgegenstandes, der Beschreibungssprache und der angewandten Forschungsmethoden. Kant unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem bestimmenden Selbst (dem Gedanken) und einem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt). Die Neurowissenschaften befassen sich mit den materiellen Aspekten des Gehirns und den kognitiven und exekutiven Funktionen, die vom Gehirn abhängen, und zielen darauf ab, verschiedene Aspekte des Denkens auf dieser materiellen und rechnerischen Grundlage zu erklären. Die metaphysische Anthropologie lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf Aspekte des Subjekts, die ihrer Ansicht nach nicht nur ohne Materie gedacht werden können, sondern auch ohne Materie sein können. Basierend auf Aktivitäten wie der Wahrnehmung der Zeit – losgelöst von der charakteristischen Abfolge körperlicher Bewegung und verbunden mit den für die menschliche Praxis typischen mentalen Prinzipien – und dem unstillbaren Durst nach Wissen, Leben und Glück, realistischer Philosophie (Vergangenheit und Gegenwart) ist der Ansicht, dass das Wissen um die Wahrheit und das Streben nach Gutem und Gerechtigkeit spezifisch für den Menschen sind. Der Mensch greift durch Wissen und Willen auf das Absolute zurück und bleibt nicht bei materiellen Realitäten stehen, sondern strebt nach symbolischem Verständnis, Wissenschaft und vollkommenem Wissen und wünscht sich nicht marktfähige Güter, das heißt Güter ohne Preis, wie Würde, gegenseitige Wertschätzung und Glück. Zukünftig zu untersuchen, inwieweit diese immateriellen Bestrebungen mit der materiellen Realität des Gehirns verknüpft werden können, scheint kein unzugängliches Ziel zu sein und sollte im Gegenteil ein wichtiges Forschungsobjekt der kognitiven Neurowissenschaften werden.<br>
Die Wissenschaft hat die Existenz von Billionen von Verbindungen zwischen den Milliarden von Neuronen und neuronalen Schaltkreisen, aus denen das menschliche Gehirn besteht, und deren Auswirkungen im Körper bestätigt. Dennoch sind sich Philosophen der sokratischen Tradition im Allgemeinen nicht darin einig, dass dies zu dem Schluss führt, dass menschliche Intelligenz und Wille lediglich neuronale Ereignisse sind, die im Gehirn ablaufen. (309)}}
{{Zitat|Für Neurowissenschaftler integriert das Gehirn alle Körperfunktionen. Aus Sicht der anwesenden Philosophen bedeutet dies nicht, dass es dem Körper seine ontologische Lebenseinheit verleiht, die durch die Seele gegeben wird: „vivere viventibus est esse“ (Aristoteles, De Anima, II, 4, 415). b 12). Für Thomas von Aquin (und zeitgenössische Denker seiner Schule) offenbart dieses Auftauchen oder die Unabhängigkeit im Handeln die Unabhängigkeit des Seins. Das Wesen (esse, actus essendi) gehört nicht zum Verbund, sondern zur eigentlichen intellektuellen Seele (die Seele existiert in ihrem Esse, das sie dem Körper mitteilt und zurücknimmt, wenn der Körper stirbt und aufhört zu „existieren“). Das Seiende (genauer: esse as actus essendi) hängt unmittelbar und damit untrennbar mit der existenten Form zusammen. Folglich gilt die menschliche Seele als unvergänglich und damit unsterblich, da sie direkt und individuell von Gott geschaffen wurde.
Diese philosophische Konzeption, insbesondere die zentrale Frage nach der Beziehung zwischen Gehirn und Seele, löste unter den an der Arbeitsgruppe beteiligten Wissenschaftlern und Philosophen intensive Debatten aus. Die Philosophen wiesen darauf hin, dass Gehirnfunktionen allein möglicherweise nicht ausreichen, um als Grundlage für ethische und ontologische Aussagen über den Status der menschlichen Person zu dienen. Menschen mit schweren Beeinträchtigungen der Gehirnfunktionen dürfen Menschlichkeit und Würde nicht absprechen. Obwohl Wissenschaftler und Philosophen sich also darin einig waren, dass das Gehirn eine lebenswichtige Einheit verleiht, vertraten die Philosophen den Standpunkt, dass die Seele das Prinzip ist, das die Lebewesen unterscheidet, und dass sie die vereinende Essenz ist. Während Organe, einschließlich des Gehirns, und die Potenzen (d. h. der Intellekt, der Wille, die Sinne) als sekundäre Prinzipien der Einheit, der Koordination und des Wirkens bezeichnet werden, ist das Individuum das erste Prinzip des Handelns und der Zuschreibung. Aus Sicht der bei dem Treffen anwesenden Neurowissenschaftler könnten autonomes Handeln und Selbstzuschreibung allein aus den spontanen Mustern der Gehirnaktivität entstehen, die sich automatisch organisieren, um interne Modelle und Handlungsmotivationen bereitzustellen, einschließlich moralischer Operationen (Verhalten und Emotionen). Aus Sicht der anwesenden Philosophen ist autonomes Handeln und Selbstorganisation das Merkmal lebender Wesen (Aristoteles, De Anima, 412 a 12), und viele von ihnen, wie Mikroorganismen und Pflanzen, haben kein Gehirn, sondern ein wesentliches Prinzip der Einheit, welches die Seele ist. So ist die Seele das Subjekt, aber in einem aktiven und koordinativen Sinne in Lebewesen der verschiedenen Arten, das – in der menschlichen Person – zum Prinzip und verantwortlichen Subjekt wird, das in der Lage ist, über sich selbst nachzudenken. Beide Perspektiven stimmen jedoch darin überein, dass „das Gehirn als neuronale zentrale Triebkraft der Existenz fungiert“ und dass „der Hirntod der Tod des Individuums ist“, wie es in der Erklärung der Päpstlichen Akademie „Why the Concept of Death is Valid as a Definition“ heißt des Hirntodes (2008). (310]}}


{{Zitat|Schlussfolgerungen<br>
{{Zitat|Schlussfolgerungen<br>

Aktuelle Version vom 28. April 2024, 20:03 Uhr

Die Scripta Varia 121 ist eine 318-seitige Schrift der PAS und trägt den Titel "Neurosciences and the Human Person:New Perspectives onHuman Activities" (Neurowissenschaften und die menschliche Person: Neue Perspektiven auf menschliche Aktivitäten). Sie beschreibt die Diskussion der vom 08.-10.11.2012 tagenden Arbeitsgruppe und wurde 2013 herausgegeben. Als besondere Ergebnisse werden angesehen:

Ab Seite 305 werden diese Themen der Tagung zusammenfassend wiedergegeben:

  • Evolution des menschlichen Gehirns
  • Bewusstsein
  • Werte und Entscheidungen
  • Überzeugungen und Sozialisation
  • Die grundlegende Bedeutung der Bildung
  • Interdisziplinäre Konvergenz und ihre Schwierigkeiten
  • Schlussfolgerungen
Die Arbeitsgruppe traf sich drei Tage lang, um Fragen an den Grenzen von Neurowissenschaften und Philosophie zu diskutieren, wobei der Schwerpunkt auf Bereichen lag, in denen der wissenschaftliche Ansatz Fortschritte macht und die den Kern dessen ausmachen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein: die Evolution von das menschliche Gehirn, die Mechanismen des Bewusstseins, die Fähigkeit zur Bewertung, Entscheidungsfindung und Selbstkontrolle, die Bildung von Überzeugungen in einer sozialen Gruppe, das Selbstbewusstsein und die Bedeutung von Bildung für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Für jedes dieser Themen fassen wir hier die wesentlichen Schlussfolgerungen und die möglichen Konvergenzpunkte zwischen den wissenschaftlichen und philosophischen Ansätzen zusammen, ohne zu leugnen, dass viele dieser Punkte weiterhin heftig diskutiert wurden. (305)
Evolution des menschlichen Gehirns

Paläontologische Beweise, die die Folgen des Klimawandels, der Ernährung und menschlicher Wanderungen untersuchen, werfen zusammen mit genetischen Beweisen, die auf eine begrenzte Anzahl neuerer Mutationen hinweisen, die nur in der menschlichen Abstammungslinie vorkommen, ein neues Licht auf die Ursprünge des Homo sapiens. Menschliche und nichtmenschliche Primaten haben gemeinsame Gehirnmechanismen, sowohl auf der Ebene einzelner Schaltkreise und Bereiche als auch in der Art und Weise, wie diese räumlich verteilten Systeme interagieren und durch synchronisierte Schwingungsmechanismen miteinander verbunden sind, um globale Gehirneinheiten zu bilden. Letztere Mechanismen spielen eine herausragende Rolle in Prozessen der Berechnung, Erregung, Aufmerksamkeit und bewussten Wahrnehmung.
Die zunehmende Komplexität des menschlichen Gehirns führte zur Entstehung neuartiger kognitiver und exekutiver Fähigkeiten, die es dem Homo sapiens ermöglichten, sich an der kulturellen Evolution zu beteiligen. Obwohl bei Affen rudimentäre Formen der Kultur nachgewiesen wurden, darunter die Weitergabe der Art und Weise, Nüsse zu knacken usw. von Generation zu Generation, waren wesentliche Schritte in diesem Prozess die Konzeption von Werkzeugen, (305)

das wachsende Bewusstsein einer endlichen Lebensspanne, die Entwicklung eines symbolischen Kommunikationssystems, die generationsübergreifende Weitergabe von erworbenem Wissen durch Bildung, die Schaffung sozialer Glaubens- und Wertesysteme, soziale Zusammenarbeit und die Konkretisierung mentaler Repräsentationssysteme in Ritualen, künstlerische Bestrebungen und soziale Einrichtungen.

Obwohl sich diese paläontologische Forschung noch in der Entwicklung befindet, stellt sie einen großen Fortschritt gegenüber der mittelalterlichen Vision des Gehirns dar, die der heilige Thomas wie folgt zusammenfasst: „Denn der Mensch braucht im Vergleich zum Körper das größte Gehirn; sowohl für seine größere Handlungsfreiheit in den inneren Kräften, die für die intellektuellen Operationen erforderlich sind; und damit die niedrige Temperatur des Gehirns die Hitze des Herzens mildern kann, die beim Menschen beträchtlich sein muss, damit er aufrecht stehen kann“ (Thomas von Aquin, S.Th. I, 91, 3 ad 1) . Bereits Platon hatte die Intuition, dass die Dimension, die Menschen von Tieren und Pflanzen unterscheidet und als mental oder spirituell bezeichnet wird, eine Folge der Evolution des Gehirns und der daraus resultierenden kulturellen Konstrukte ist (vgl. Timaios, 90 a-b). (306)

Bewusstsein

Elementare Mechanismen des Bewusstseins werden mittlerweile zunehmend auf Gehirnebene analysiert. Die Ereignisse, die menschliche Beobachter als bewusst melden, unterscheiden sich von denen, die sie nicht bewusst melden können, in mehreren objektiven neurophysiologischen Parametern. Das Gefühl der Eigenverantwortung für unseren Körper und unsere Handlungen sowie das Gefühl der Ich-Perspektive (oder Selbstperspektive) und der Interozeption können im Labor manipuliert werden, und ihre neuronalen Korrelate werden mithilfe der Bildgebung des Gehirns entdeckt.
Das Gefühl der Einheit des Bewusstseins kann, auch wenn es teilweise illusorisch ist, als ein Prozess der Konvergenz der verschiedenen kognitiven Fähigkeiten oder „Module“ in einem einzigen großen Gehirnnetzwerk oder „Arbeitsbereich“ verstanden werden. Es wird angenommen, dass diese Integration, die durch die Existenz anatomischer und funktioneller Verbindungen über lange und kurze Distanzen ermöglicht wird, die höherstufige Gehirnbereiche verbinden, eine interne Synthese der angeborenen und erworbenen Dispositionen des Individuums und seiner Anerkennung von sich selbst und den Seinen ermöglicht Körper in der Welt.
Die praktischen Implikationen dieser Erkenntnisse sind in der medizinischen Praxis wichtig, um den Bewusstseinsverlust während einer Anästhesie oder nach Hirnläsionen besser zu verstehen, die Erkennung von Restbewusstsein bei eingesperrten Patienten zu erleichtern und nach Mechanismen zu suchen, die dieser Störung zugrunde liegen die Einheit des Bewusstseins bei psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie. Die Entdeckung, dass Bewusstsein mit bestimmten Gehirnsystemen in Zusammenhang stehen kann, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Großteil unseres Gehirns unbewusst funktioniert. Neurowissenschaften und Psychologie haben herausgefunden, dass viele davon (306)

Gehirnprozesse für Wissen, Werte, Entscheidungen, Glaubensbildung und soziale Repräsentation finden auf einer tiefen und unbewussten Ebene statt, die einer genauen Selbstbeobachtung und bewussten Erinnerung nicht zugänglich bleibt. Dennoch entwickeln wir durch Selbstbeobachtung ein gewisses Maß an expliziter Selbsterkenntnis sowie explizite Theorien darüber, wie unser Geist und der Geist anderer funktioniert (Theorie des Geistes). (307)
Werte und Entscheidungen

Die Art und Weise, wie menschliche und nichtmenschliche Primaten Werte zuordnen und Entscheidungen treffen, kann auch mit einer Reihe von Gehirnregionen zusammenhängen, die eine prospektive Bewertung der Konsequenzen von Handlungen auf mehreren Ebenen ermöglichen. Einige dieser Bereiche, die rein imaginäre und neuartige Entscheidungen bewerten können, sind die Gehirnbereiche, die beim Menschen im Vergleich zu anderen Primaten am weitesten entwickelt sind, was auf eine erweiterte Funktionalität des Bewertungs- und Entscheidungssystems während der Evolution der Homininen schließen lässt. Die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung weist eine interindividuelle Variabilität auf, die mit Neurotransmitterkonzentrationen und der funktionellen Konnektivität zwischen Gehirnregionen und Netzwerken korreliert werden kann. Im einen Extremfall weisen süchtige Personen ein massives Ungleichgewicht in den dopaminergen Netzwerken auf, das ihr gesamtes Entscheidungssystem auf den Drogenkonsum ausrichtet und gleichzeitig ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle untergräbt. Das Verständnis dieser Kreisläufe eröffnet die Möglichkeit einer zukünftigen Behandlung, indem es die Funktionsweise des Bewertungssystems wiederherstellt und die Selbstkontrolle stärkt. (307)

Überzeugungen und Sozialisation

Die Bildung von Glaubenssystemen ist ein weiterer kognitiver Bereich außergewöhnlicher Ausbreitung in der menschlichen Spezies. Es wird angenommen, dass Wahrnehmungen und Überzeugungen gemeinsam aus hierarchischen Gehirnnetzwerken entstehen, die interne Modelle der Welt mit externen Signalen konfrontieren und die entsprechenden Fehlersignale als Korrekturmechanismus nutzen. Schizophrenie ist eine Geisteskrankheit, die als abnormale Funktion dieses Fehlerausbreitungsmechanismus analysiert werden kann.
Obwohl hierarchische Wahrnehmungs- und Glaubenssysteme bei Affen und Menschenaffen existieren, erreichen sie ihre volle Entwicklung beim Menschen, bei dem eine zusätzliche Ebene des Austauschs von Aufmerksamkeit und sozialen Informationen eine wesentliche Rolle spielt. Die Schaltkreise des menschlichen sozialen Gehirns, deren Erforschung erst vor kurzem begonnen hat, könnten Aufschluss darüber geben, wie wir eine Interpretation unseres eigenen Selbst, unseres Verhaltens und unseres Verantwortungs- und Rechenschaftsgefühls erzeugen. Das starke Zugehörigkeitsgefühl zu einer sozialen Gruppe entsteht schon sehr früh in der Entwicklung: Schon Säuglinge äußern Vorlieben für andere, die die gleiche Sprache sprechen. Das menschliche Zugehörigkeitsgefühl zu Gruppen (307)

erzeugt starke soziale Tendenzen zur Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe und zum Ausschluss aus der Gruppe.

Wie sich altruistische Zusammenarbeit hätte entwickeln können, ist Gegenstand mehrerer mathematischer Modelle. Sie legen nahe, dass Kooperation eine echte Kraft in der Evolution ist, die möglicherweise sogar für die Entstehung jeglicher Komplexität im Leben notwendig ist, von mehrzelligen Organismen über Insektengesellschaften bis hin zur menschlichen Sprache. In diesen Modellen sind Vertrauen, Großzügigkeit und Vergebung explizit als entwickelte Merkmale enthalten, die die Gruppenzusammenarbeit stabilisieren. Menschen zeichnen sich möglicherweise durch eine spezifische Form der Zusammenarbeit aus, die „indirekte Reziprozität“, die auf der Sprache beruht, um die Zusammenarbeit auf neue Individuen ausschließlich auf der Grundlage ihres sozialen Rufs auszudehnen. In dieser Hinsicht stärken die Kognitionswissenschaften auf neue und echte Weise die philosophischen Vorstellungen, die die Grundlage ethischer und politischer Systeme bilden und denen zufolge der Mensch im Wesentlichen ein „soziales Tier“ ist (Aristoteles, Politik, I, 9, 1253 a 2). (308)

Die grundlegende Bedeutung der Bildung

Auch wenn sie nicht ganz korrekt sind, entwickeln sich die mentalen Repräsentationen des Menschen kontinuierlich weiter und können durch Bildung verbessert werden, eine Aktivität, die möglicherweise nur für Menschen gilt. Neuroplastizität des Gehirns ist der Mechanismus, durch den neue Erinnerungen und Lernprozesse im Gehirn stattfinden. Im menschlichen Gehirn ermöglicht es uns nicht nur, durch Bildung Tradition und Wissen zu vermitteln, sondern auch Persönlichkeitsmerkmale zu formen und zu formen. Bildung ermöglicht sogar den Kampf gegen einige der nun maladaptiven Merkmale, die das Gehirn im Laufe seiner Evolution geerbt hat. Schon ein paar Wochen Training können die Gehirnnetzwerke für Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle verändern und so willentliches Handeln gegenüber automatischer Reaktion hervorheben. Somit verfügt jeder Mensch über eine aktive Fähigkeit in sich, die es ihm ermöglicht, „zu sich selbst und seiner eigenen Vollkommenheit hin“ voranzukommen (Aristoteles, De Anima, II, 5, 417 b 3). Daher ist es wichtig, Wahrnehmung, Wissen, Denken und Handeln zu erziehen und zu „schulen“, um Wahrheit, Gutes und Gerechtigkeit zu erlangen.
Die Entwicklung eines besseren Verständnisses darüber, wie sich Wissens-, Handlungs- und Entscheidungskreise diversifizieren, um das Repertoire unserer Spezies zu erweitern, sowie die Untersuchung, wie das Gehirn des Lehrers bei der Vermittlung von Bildung funktioniert, sind wesentliche Ziele zukünftiger Forschung. Die Rolle des Lehrers bei Platon und Thomas von Aquin besteht darin, das Instrument zu sein, das seinen Schülern hilft, nicht nur ihre eigenen Fähigkeiten hervorzuheben (educere), sondern auch Wissen für sich selbst zu entwickeln. Hier besteht möglicherweise ein Konvergenzpunkt mit Theorien zur Gehirnentwicklung, die selbst sehr jungen Säuglingen ein umfangreiches Wissensrepertoire (über Objekte, Raum, Zeit, Zahlen, Sprache ...) und die Fähigkeit zuschreiben, durch Auswahl zu lernen die relevanteste dieser internen Darstellungen. Aristoteles identifiziert in ähnlicher Weise einen Unterschied zwischen Potenz und Handlung: (308)

Wissen ist beim Lernenden bereits auf aktive Weise vorhanden, nicht passiv, wie es im Allgemeinen in der Materie der Fall ist. Andernfalls wäre der Mensch nicht in der Lage, sich Wissen selbst anzueignen. Daher gilt: „Wenn im Subjekt etwas bereits in aktiver, vollendeter Potenz existiert, handelt der äußere Akteur nur, indem er dem inneren Akteur hilft“ (Thomas von Aquin, De Magistro – De Veritate, 11, 1). (309)
Interdisziplinäre Konvergenz und ihre Schwierigkeiten

Eine der komplexesten Fragen im interdisziplinären Ansatz ist die Klärung der oft unterschiedlichen Bedeutungen, die ein Wort bei der Verwendung in den verschiedenen Disziplinen haben kann. Beispielsweise ist die Analyse des „Selbst“ ein bevorzugtes Thema für die Interaktion zwischen Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie und spiegelt die unterschiedlichen Traditionen und Kompetenzen dieser Disziplinen wider. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich des erkenntnistheoretischen Status des Untersuchungsgegenstandes, der Beschreibungssprache und der angewandten Forschungsmethoden. Kant unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem bestimmenden Selbst (dem Gedanken) und einem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt). Die Neurowissenschaften befassen sich mit den materiellen Aspekten des Gehirns und den kognitiven und exekutiven Funktionen, die vom Gehirn abhängen, und zielen darauf ab, verschiedene Aspekte des Denkens auf dieser materiellen und rechnerischen Grundlage zu erklären. Die metaphysische Anthropologie lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf Aspekte des Subjekts, die ihrer Ansicht nach nicht nur ohne Materie gedacht werden können, sondern auch ohne Materie sein können. Basierend auf Aktivitäten wie der Wahrnehmung der Zeit – losgelöst von der charakteristischen Abfolge körperlicher Bewegung und verbunden mit den für die menschliche Praxis typischen mentalen Prinzipien – und dem unstillbaren Durst nach Wissen, Leben und Glück, realistischer Philosophie (Vergangenheit und Gegenwart) ist der Ansicht, dass das Wissen um die Wahrheit und das Streben nach Gutem und Gerechtigkeit spezifisch für den Menschen sind. Der Mensch greift durch Wissen und Willen auf das Absolute zurück und bleibt nicht bei materiellen Realitäten stehen, sondern strebt nach symbolischem Verständnis, Wissenschaft und vollkommenem Wissen und wünscht sich nicht marktfähige Güter, das heißt Güter ohne Preis, wie Würde, gegenseitige Wertschätzung und Glück. Zukünftig zu untersuchen, inwieweit diese immateriellen Bestrebungen mit der materiellen Realität des Gehirns verknüpft werden können, scheint kein unzugängliches Ziel zu sein und sollte im Gegenteil ein wichtiges Forschungsobjekt der kognitiven Neurowissenschaften werden.
Die Wissenschaft hat die Existenz von Billionen von Verbindungen zwischen den Milliarden von Neuronen und neuronalen Schaltkreisen, aus denen das menschliche Gehirn besteht, und deren Auswirkungen im Körper bestätigt. Dennoch sind sich Philosophen der sokratischen Tradition im Allgemeinen nicht darin einig, dass dies zu dem Schluss führt, dass menschliche Intelligenz und Wille lediglich neuronale Ereignisse sind, die im Gehirn ablaufen. (309)

Für Neurowissenschaftler integriert das Gehirn alle Körperfunktionen. Aus Sicht der anwesenden Philosophen bedeutet dies nicht, dass es dem Körper seine ontologische Lebenseinheit verleiht, die durch die Seele gegeben wird: „vivere viventibus est esse“ (Aristoteles, De Anima, II, 4, 415). b 12). Für Thomas von Aquin (und zeitgenössische Denker seiner Schule) offenbart dieses Auftauchen oder die Unabhängigkeit im Handeln die Unabhängigkeit des Seins. Das Wesen (esse, actus essendi) gehört nicht zum Verbund, sondern zur eigentlichen intellektuellen Seele (die Seele existiert in ihrem Esse, das sie dem Körper mitteilt und zurücknimmt, wenn der Körper stirbt und aufhört zu „existieren“). Das Seiende (genauer: esse as actus essendi) hängt unmittelbar und damit untrennbar mit der existenten Form zusammen. Folglich gilt die menschliche Seele als unvergänglich und damit unsterblich, da sie direkt und individuell von Gott geschaffen wurde.

Diese philosophische Konzeption, insbesondere die zentrale Frage nach der Beziehung zwischen Gehirn und Seele, löste unter den an der Arbeitsgruppe beteiligten Wissenschaftlern und Philosophen intensive Debatten aus. Die Philosophen wiesen darauf hin, dass Gehirnfunktionen allein möglicherweise nicht ausreichen, um als Grundlage für ethische und ontologische Aussagen über den Status der menschlichen Person zu dienen. Menschen mit schweren Beeinträchtigungen der Gehirnfunktionen dürfen Menschlichkeit und Würde nicht absprechen. Obwohl Wissenschaftler und Philosophen sich also darin einig waren, dass das Gehirn eine lebenswichtige Einheit verleiht, vertraten die Philosophen den Standpunkt, dass die Seele das Prinzip ist, das die Lebewesen unterscheidet, und dass sie die vereinende Essenz ist. Während Organe, einschließlich des Gehirns, und die Potenzen (d. h. der Intellekt, der Wille, die Sinne) als sekundäre Prinzipien der Einheit, der Koordination und des Wirkens bezeichnet werden, ist das Individuum das erste Prinzip des Handelns und der Zuschreibung. Aus Sicht der bei dem Treffen anwesenden Neurowissenschaftler könnten autonomes Handeln und Selbstzuschreibung allein aus den spontanen Mustern der Gehirnaktivität entstehen, die sich automatisch organisieren, um interne Modelle und Handlungsmotivationen bereitzustellen, einschließlich moralischer Operationen (Verhalten und Emotionen). Aus Sicht der anwesenden Philosophen ist autonomes Handeln und Selbstorganisation das Merkmal lebender Wesen (Aristoteles, De Anima, 412 a 12), und viele von ihnen, wie Mikroorganismen und Pflanzen, haben kein Gehirn, sondern ein wesentliches Prinzip der Einheit, welches die Seele ist. So ist die Seele das Subjekt, aber in einem aktiven und koordinativen Sinne in Lebewesen der verschiedenen Arten, das – in der menschlichen Person – zum Prinzip und verantwortlichen Subjekt wird, das in der Lage ist, über sich selbst nachzudenken. Beide Perspektiven stimmen jedoch darin überein, dass „das Gehirn als neuronale zentrale Triebkraft der Existenz fungiert“ und dass „der Hirntod der Tod des Individuums ist“, wie es in der Erklärung der Päpstlichen Akademie „Why the Concept of Death is Valid as a Definition“ heißt des Hirntodes (2008). (310]

Schlussfolgerungen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das aktuelle Wissen über die Organisation des menschlichen Gehirns und wie es zu mentalen Zuständen führt, bereits einen wichtigen Beitrag zur Frage liefert, was der Mensch ist. Doch wie bei jedem wissenschaftlichen Unternehmen bleiben die Antworten, die es liefert, begrenzt. Wissenschaftler und Philosophen müssen nach einer besseren Sprache suchen, die die Lücken zwischen den Disziplinen und Analyseebenen schließen kann. Dazu gehört die Sprache der Werte, Verantwortung, Würde und Gerechtigkeit. Die Rekonstruktion der Konzepte von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Geist und Seele, Form und Information kann dazu beitragen, die Naturwissenschaften, die Sozialwissenschaften und die Geisteswissenschaften zusammenzubringen.
Dank der Entdeckung der Zentralität des Gehirns durch die Neurowissenschaften haben wir nun einen neuen Ausgangspunkt für unsere Anerkennung des Status des Menschen. Heute können wir sowohl Akteure als auch Zuschauer unseres eigenen Handelns und unserer selbst sein – die Ich-Perspektive des subjektiven Selbst wird durch die Dritte-Person-Perspektive der Neurowissenschaften ergänzt. Nur ein Mensch ist in der Lage, eine solche Zirkularität herzustellen, indem er die Funktionsweise seines Gehirns von außen mit immer leistungsfähigeren Instrumenten beobachtet und diese Daten gleichzeitig von innen interpretiert, basierend auf einer bewussten Selbstreflexion. Die Konsequenzen dieses dualen Ansatzes werden erst langsam erforscht.
Kognitive Neurowissenschaftler tragen nicht nur zu dieser konzeptionellen Suche bei, sondern tragen auch eine wichtige gegenwärtige Verantwortung im Hinblick auf die vielen Herausforderungen, die die heutige Welt mit sich bringt. Neue Schnittstellen werden das menschliche Gehirn bald mit Computern und Robotern verbinden, was Lähmungen lindern, aber auch schwierige ethische Fragen aufwerfen wird. Das Rechtssystem kann von unserem verbesserten Verständnis der bewussten und unbewussten Determinanten menschlichen Verhaltens profitieren, wird aber auch stark herausgefordert. Viele bestehende menschliche Institutionen, wie zum Beispiel das Gefängnissystem, müssen angesichts unseres wachsenden Verständnisses des menschlichen Gehirns und der Möglichkeit, es zu verändern und zu erziehen, letztendlich möglicherweise umfassend überdacht werden. Das Gefängnis (Entzug der Bewegungsfreiheit) sollte niemals nur eine Strafeinrichtung sein, sondern vor allem auch die Gesellschaft vor gefährlichen Personen schützen, abschreckend wirken und für die Inhaftierten korrigierend und erzieherisch sein. (311)

Teilnehmerliste

Name Fach Ort Nation
Werner Arber Mikrobiologie Basel Schweiz
Marcelo Sánchez Sorondo Bischof der PAS Vatikan Vatikan
Silvia Arber Mikrobiologie Basel Schweiz
Antonio M. Battro Buenos Aires Argentinien
Timothy E. Behrens Hirnforschung Oxford Großbritannien
Enrico Berti Padua Italien
Olaf Blanke Neurologie Lausanne Schweiz
Yves Coppens Paris Frankreich
Georges M.M. Cottier Kardinal Vatikan Vatikan
Stanislas Dehaene Neurochirurgie Gif-sur-Yvette Frankreich
John P. Donoghue Providence USA
Christopher D. Frith London Großbritannien
Uta Frith London Großbritannien
Michael S. Gazzaniga Hirnforschung Santa Barbara USA
Owen D. Jones Hirnforschung Nashville USA
Jacques Mehler Trent Italien
Earl K. Miller Hirnforschung Massachussets USA
Jürgen Mittelstraß Philosophy Konstanz Deutschland
Martin A. Nowak Cambridge USA
Svante Pääbo Anthropologie Leipzig Deutschland
Michael I. Posner Psychologie Eugene USA
Wolf J. Singer Hirnforschung Frankfurt Deutschland
Elizabeth S. Spelke Psychologie Cambridge USA
Nora D. Volkow Bethesda USA
Timothy D. Wilson Psychologie Charlottesville USA

Anhang

Anmerkungen


Einzelnachweise