Vorverlegung des Todes

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Viele Kritiker des Hirntodes behaupten, dass mit der Einführung des Hirntodes der Todeszeitpunkt vorverlegt wurde. Sie verweisen darauf, dass das Herz noch immer schlägt, was seit Alters her ein Zeichen von Leben war. - Einige dieser Kritiker verweisen noch darauf, dass diese neue Definition des Hirntods notwendig wurde, weil wir sonst zu viele Menschen für Wochen und Monate an der künstlichen Beatmung hätten.
Diese Kritiker blenden die Entwicklung aus, die der Definition des Hirntodes vorausgegangen ist.

Geschichtliche Entwicklung

50er Bis in die 1950er Jahre waren die unsicheren Todeszeichen fehlende Atmung und fehlender Herzschlag. Die frühen sicheren Todeszeichen waren seit Ende des 18. Jh. durch die ersten erfolgreichen Reanimationen durch künstliche Beatmung, Herz-Druck-Massage und/oder Elektroschocks Totenstarre und Totenflecken. Ein Mensch war tot, wenn er nicht mehr atmete und sein Herz nicht mehr schlug und eine Reanimation erfolglos bzw. aussichtslos war.

Mitte der 1950er Jahre hielt die künstliche Beatmung Einzug in die Intensivstationen. Damit wurde vielen Menschen das Leben gerettet, die einen vorübergehenden Ausfall der Eigenatmung hatten. Die Geräte der künstlichen Beatmung konnten ermüdungsfrei für Wochen und Monate die ausgefallene Atmung ersetzen. - Damit war es jedoch auch möglich, eine dauerhaft erloschene Eigenatmung zu ersetzen, so wie es bei allen Hirntoten der Fall ist.

Es zeigte sich, dass einiger dieser künstlich beatmeten Patienten bis zu ihren Herztod nicht aus ihrem Zustand des tiefen Komas kamen - den Zustand konnte man damals nicht näher beschreiben. Sie wurden zwar künstlich beatmet, aber sie zeigten keinerlei Reaktionen. Alle ihre Hirnstammreflexe waren erloschen. Es waren Patienten in Zuständen, die erst die künstliche Beatmung geschaffen hatte. Sie waren die Produkte der künstlichen Beatmung.
Was sollte man mit diesen Patienten machen, die sich in diesem "tiefen Koma" befanden? Sollte bzw. musste man sie bis zu ihrem Herztod künstlich weiterbeatmen? Oder durfte man - ethisch vertretbar - hierbei auch die künstliche Beatmung abschalten und somit den baldigen[Anm. 1] Herztod herbeiführen?
Diese Frage wurde auch an Papst Pius XII. (1876/1939-1958) herangetragen.

1957 1957 lehnte der Papst die Verpflichtung ab, auch bei aussichtslosen Patienten die Therapie der künstlichen Beatmung unbedingt fortzusetzen.
Wenn tiefe Bewusstlosigkeit für permanent befunden wird, dann sind außerordentliche Mittel zur Weiterbehandlung des Lebens nicht obligatorisch. Man kann sie einstellen und dem Patienten erlauben zu sterben.[1]

Gleichzeitig hielt er fest, dass es den Ärzten obliege, den Zeitpunkt des Todes festzulegen.

1959 1959 beschrieben Pierre Mollaret (1898-1987) und Maurice Goulon (1919-2008) erstmals unter dem Begriff „Coma depassé“ (jenseits/unterhalb des Komas) einen Zustand, welcher bei künstlicher Beatmung keinerlei Lebenszeichen des Gehirns erkennen ließ, der nicht umkehrbar war und irgendwann zum Herztod führte. Der Begriff „Hirntod“ von Bichat wurde von ihnen nicht aufgegriffen. Die Veröffentlichung regte eine Diskussion um ein neues Todeskriterium an. Der Artikel erschien nur auf Französisch, weswegen er international kaum Beachtung fand.
~1960 Die Medizin hatte damit um 1960 einerseits eine klare Beschreibung eines Zustands "jenseits des Komas", andererseits die ethische Erlaubnis, bei den Menschen "in tiefem Koma" die künstliche Beatmung abzuschalten. Es gab jedoch noch keine allgemein verbindliche Regelung, wie man diesen Zustand "jenseits des Komas" von einem tiefen Koma unterscheiden konnte. Man wollte sicher gehen und vermeiden, dass komatöse Patienten, die noch eine Chance haben - wenn auch sehr geringe Chance -, wieder ins Leben zurück zu kehren, durch Abschalten der künstlichen Beatmung diese Chance genommen wird. Bei den Patienten "jenseites des Komas" gab es diese Hoffnung nicht. Daher war hier das Abschalten der künstlichen Beatmung gerechtfertigt.

In diesen Jahren entschied der Arzt bzw. das Ärzteteam in der Klinik selbständig, bei wem die intensivmedizinische Behandlung fortgesetzt und bei wem sie beendet wurde. Eine einheitliche Regelung für Deutschland gab es noch nicht.

1964 1964 wurde auf dem Deutschen Chirurgenkongress ein erstes einfaches Diagnoseschema verabschiedet, eine erste einfache HTD. Damit war in Deutschland eine erste gemeinsame Richtschnur für die Feststellung des Hirntods geschaffen. Der Hirntod als Tod des Gehirns war damit noch nicht erkannt.
1966 1966 führten Fred Plum (1924-2010) und Jerome Posner den Begriff "Locked-in-Syndrom" ein. Doch damit war der Hirntod als Tod des Gehirns noch immer nicht erkannt.
1968 Am 5.8.1968 definierte eine aus Medizinern, Juristen und Theologen gebildete Ad-Hoc-Kommission der Harvard University das sogenannte Hirntod-Konzept. Am Anfang dieser Definition steht der Grund:
Unser primäres Anliegen ist es, das irreversible Koma als neues Todeskriterium zu definieren. Es gibt zwei Gründe für den Bedarf an einer neuen Definition:
  1. Der medizinische Fortschritt auf den Gebieten der Wiederbelebung und der Unterstützung lebenserhaltender Funktionen hat zu verstärkten Bemühungen geführt, das Leben auch schwerstverletzter Menschen zu retten. Manchmal haben diese Bemühungen nur teilweisen Erfolg: Das Ergebnis sind dann Individuen, deren Herz fortfährt zu schlagen, während ihr Gehirn irreversibel zerstört ist. Eine schwere Last ruht auf den Patienten, die den permanenten Verlust ihres Intellekts erleiden, auf ihren Familien, auf den Krankenhäusern und auf solchen Patienten, die auf von diesen komatösen Patienten belegte Krankenhausbetten angewiesen sind.
  2. Überholte Kriterien für die Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung von Organen zur Transplantation führen.[Anm. 2]

Auch hier war noch nicht vom Hirntod die Rede, sondern vom Coma depassé, das bereits 1959 beschrieben wurde. Die Verabschiedung des Papieres 1968 war somit nur eine Zusammenfassung von einzelnen Elementen der vorausgegangenen 12 Jahre. Hier wurde es erstmals mit der "Beschaffung von Organen zur Transplantation" in Verbindung gebracht.

Die Einführung des Hirntods als Tod des Menschen ist somit keine "Vorverlegung des Todes", sondern die notwendige Konsequenz aus der Einführung der künstlichen Beatmung. Denn mit ihr konnte auch jemand jenseits des Komas (Coma depassé) weiterhin künstliche beatmet werden. Dies machte jedoch medizinisch keinen Sinn, weil der Zustand permanent ist, Wahrnehmung Bewusstsein, Erinnerung, Wissen und Können sowie alle lebenswichtigen Reflexe erloschen sind. Der Mensch ist mit dem Hirntod tot. Es wird bei einem Hirntoten nur ein Körper mit spinalen Reflexen in seinen Grundfunktionen künstliche aufrecht erhalten. Jedes Tier und jede Pflanze besitzt mehr Leben als Hirntote.

Anhang

Anmerkungen

  1. Meist binnen 2 bis 3 Minuten.
  2. Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche von Hoff. In: Schmitten (Hg.): Wann ist der Mensch tot? Reinbek 1994, S.157.
    Original Zitat: "Our primary purpose is to define irreversible coma as a new criterion for death. there are two reasons why there is need for a definition: (1) Improvements in resuscitative and supportive measures have led to increased efforts to save are desperately injured. Sometimes these efforts have only partial success so that the result is an individual whose heart continues to beat whose brain is irreversibly damaged. The burden is great on patients who suffer permanent loss of intellect, on their families, on the hospitals, and on those in need of hospital beds already of death can lead to controversy in obtaining organs for transplantation." ('AD HOC' COMMITTEE (1968). S. 337.)

Einzelnachweise