Hirntod und Organspende

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Meist wird Hirntod in Zusammenhang mit Organspende diskutiert. Selbst die Stellungnahme des DER vom 24.02.2015 trennt nicht klar.[Anm. 1] Dabei schreiben DGNI, DGN und DGNC in ihrer Stellungnahme vom 24.02.2015 über die Stellungnahme des DER: "Die unterzeichnenden Fachgesellschaften ergänzen in diesem Zusammenhang, dass sich die Fragen in Bezug auf den Hirntod auch stellen, wenn von vorneherein keine Transplantation in Frage kommt. Bei mehr als der Hälfte der Menschen wird der Hirntod diagnostiziert, auch wenn nach der Diagnose keine Organentnahme erfolgt, aus den verschiedensten Gründen."[1]

Dag Moskopp schreibt hierzu: "Es ist dem Autor bewusst, dass diese obligat trennende Darstellung für manchen Außenstehenden, der die primäre historische Entwicklung nicht miterlebt oder die Publikationen hierzu (etwa zwischen 1956 und 1968) nicht präsent hat, eigenartig bis übertrieben wirkt, insbesondere wenn er sich ausschließlich an dem diesbezüglichen Fehlverständnis von Hans Jonas orientiert und an denjenigen Personen, die ihn ungeprüft zitieren."[2]

Der objektive Sachverhalt einer grundsätzlichen Unabhängigkeit beider Gegebenheiten, Hirntod und Transplantation, kann kaum deutlich genug hervorgehoben werden, weil deren bloße Nachbarschaftsbeziehung häufig gedanklich verwirrend vermischt wird. Derlei ist nicht nur bei Hans Jonas der Fall. Bis heute vermischt auch der evangelische Theologe, Ulrich Eibach, beides und bekräftigt diese Sichtweise auch noch auf persönliche Nachfragen (März/April 2014). Auch im recht prolmatischen Infobrief der Bundesregierung[3], der offenkundig ohne einen medizinischen Sachverständigen abgefasst wurde, werden beide Aspekte vermischt.[4]
Bis heute wird von vielen, die sich offenbar nur selektiv für historische Entwicklungen interessieren, diese englischsprachige Publikation von 1968 als etwas Bahnbrechendes bezeichnet, so als sei damals in Boston der Hirntod erstmals definiert worden - das ist nachweislich unzutreffend! Auch für Hans Jonas mit seiner viel zitierten Kritik begannn offenbar die gesamte moderne Hirntoddiskussion "ganz plötzlich" 1968 in Boston. Und er sah sie von Anfang an ausschließlich gekoppelt an die Entnahme von Organen. Diese subjektive Sicht der Gegebenheiten wird der damaligen Publikationslage nicht gerecht. Aber auch etwa Hoff und in der Schmitten sowie viele andere folgten diesem Gedankengang über weite Strecken.[5]

Die Trennung von Hirntod und Organspende betont auch Solange Grosbuis.[6]

Aussagen aus dem 20. Jh.

Am 26.04.1979 stellte ein mit „gb“ abgekürzter Autor im Dtsch Arztebl auf Seite 1140 das britische Hirntodkonzept nach dem Memorandum vom 15.01.1979 vor:

Die Notwendigkeit dieser Erklärung war damals damit begründet worden, daß bisher ein Mensch dann für tot gehalten werden konnte, wenn Atmung und Zirkulation aussetzten. Nachdem jedoch die technischen Möglichkeiten geschaffen worden waren, diese Funktionen künstlich aufrechtzuerhalten, entstand für Ärzte und auch für Angehörige das Dilemma der Unsicherheit, wie lange solche technischen Möglichkeiten angewendet werden sollten.

Kommentierend wurde damals darauf hingewiesen, daß die Entscheidung, die künstliche Beatmung abzuschalten, weder mit Organtransplantationen noch mit Euthanasie etwas zu tun habe — es gehe vielmehr lediglich um das klinische Urteil: der Patient ist tot, obwohl das Herz noch schlägt."[7]


Aussagen aus dem 21. Jh.

Im April 2007 veröffentlichten Calixto Machado, Julius Korein, Yazmina Ferrer, Liana Portela, Maria de la C García und José M Manero den Artikel "The concept of brain death did not evolve to benefit organ transplants".[8] Darin lautet der Abstract:

Obwohl allgemein angenommen wird, dass das Konzept des Hirntods (BD) zum Nutzen von Organtransplantationen entwickelt wurde, entwickelte es sich unabhängig davon. Die Transplantation verdankte ihre Entwicklung den Fortschritten in der Chirurgie und der immunsuppressiven Behandlung; die BD verdankte ihren Ursprung der Entwicklung der Intensivmedizin. Die erste Autotransplantation wurde in den frühen 1900er Jahren durchgeführt, als Studien über einen erhöhten intrakraniellen Druck, der zu einem Atemstillstand mit erhaltenem Herzschlag führte, berichtet wurden. Zwischen 1902 und 1950 wurde das BD-Konzept durch die Entdeckung des EEG, Crile's Definition des Todes, die Verwendung des EEG zum Nachweis der Abschaffung von Hirnpotenzialen nach einer Ischämie und Crafoord's Aussage, dass der Tod auf die Unterbrechung des Blutflusses zurückzuführen sei, unterstützt. Bei der Transplantation wurde die erste Xenotransplantation beim Menschen und die erste erfolglose Nierentransplantation von einer Leiche durchgeführt. In den 1950er Jahren wurde der Kreislaufstillstand im Koma durch Angiographie festgestellt und der Tod des Nervensystems und das Koma dépassé beschrieben. Murray führte die erste erfolgreiche Nierentransplantation durch. In den 1960er Jahren wurden das BD-Konzept und Organtransplantationen sofort miteinander verbunden, als die erste Nierentransplantation mit einem hirntoten Spender durchgeführt wurde; Schwab schlug vor, bei BD das EEG einzusetzen; der Bericht des Harvard-Komitees und die Erklärung von Sydney erschienen; die ersten erfolgreichen Nieren-, Lungen- und Pankreastransplantationen mit leblosen (nicht hirntoten) Spendern wurden erzielt; Barnard führte die erste menschliche Herztransplantation durch. Dieser historische Rückblick zeigt, dass das BD-Konzept und die Organtransplantation getrennt voneinander entstanden und parallel voranschritten und erst in den späten 1960er Jahren gemeinsam Fortschritte machten. Daher hat sich das BD-Konzept nicht zum Nutzen der Transplantation entwickelt.

Es wird allgemein angenommen, dass sich das Konzept des Hirntods (BD) zum Nutzen der Organtransplantation entwickelt hat.1,2,3 Nichtsdestotrotz wird ein historischer Ansatz zu diesem Thema zeigen, dass beide einen völlig getrennten Ursprung hatten. Die Organtransplantation wurde dank der technischen Fortschritte in der Chirurgie und der immunsuppressiven Behandlung entwickelt.4 In der Zwischenzeit wurde das BD-Konzept dank der Entwicklung von Intensivpflegetechniken entwickelt5,6.

In diesem Aufsatz präsentieren wir eine historische Untersuchung der Entwicklung des BD-Konzepts im 20. Jahrhundert im Vergleich zu einigen Schlüsselmomenten der Transplantationsfortschritte. Wir kommen zu dem Schluss, dass BD und Organtransplantation heute zwar vollständig miteinander verbunden sind, dass sich das Konzept der BD jedoch nicht zum Nutzen der Transplantation entwickelt hat.

Anfang 2016 veröffentlichte Matthias Mindach den Artikel: "Wenn wir 'Tod' sagen, dann meinen wir nicht 'Tod'. Der Deutsche Ethikrat und der Hirntod – Anmerkungen aus medizinischer Sicht".[9] Darin heißt es:

Es folgt der Abschnitt „2.2. Ablauf der Organspende in Deutschland“, dem der Abschnitt „2.2.2. Hirntoddiagnostik“ untergeordnet ist. Dadurch könnte nahegelegt werden, dass die Hirntodbestimmung lediglich im Rahmen der Organtransplantation bedeutsam sei und keinen eigenständigen Stellenwert besitze. Dies begünstigt eine funktionale Sicht auf den Hirntod, die von der historischen und tatsächlichen Situation her nicht gerechtfertigt ist. (69)
Das Hirntodkonzept ist nicht in erster Linie für die Transplantation geschaffen worden – das ist ein verbreiteter Irrtum, dessen Bekämpfung lohnend gewesen wäre –, auch wenn es dafür einen sicheren Scheidepunkt liefert. (74)

Anhang

Siehe auch: Therapieziel Hirntod

Anmerkungen

  1. Dies bemängeln verschiedene Gruppen und Personen, darunter diese:
    • DGNI, DGN und DGNC schreiben in ihrer Stellungnahme vom 24.02.2015 über die Stellungnahme des DER: "Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates trägt den Titel 'Hirntod und Entscheidung zur Organspende'. Damit wird deutlich, dass die in dem Papier festgehaltenen Überlegungen und Empfehlungen sich primär auf den Hirntod in seiner Bedeutung für die Transplantationsmedizin beziehen. Die unterzeichnenden Fachgesellschaften ergänzen in diesem Zusammenhang, dass sich die Fragen in Bezug auf den Hirntod auch stellen, wenn von vorneherein keine Transplantation in Frage kommt. Bei mehr als der Hälfte der Menschen wird der Hirntod diagnostiziert, auch wenn nach der Diagnose keine Organentnahme erfolgt, aus den verschiedensten Gründen. Die unterzeichnenden Fachgesellschaften sprechen sich deswegen, aber auch zur Stärkung des Vertrauens dafür aus, den medico-legalen Akt der Hirntodbestimmung auch organisatorisch von der Organtransplantation ganz zu trennen."
    • Dag Moskopp bemängelt, es "wird hierzu nicht hinreichen klar getrennt, sondern vielmehr beides - stellenweise verwirrend - miteinander verquickt." Dag Moskopp verweist hierbei auf die Seiten 10, 12, 17ff und 42. (Dag Moskopp: Hirntod, 13)

Einzelnachweise

  1. http://www.dgni.de/images/stories/pdf/150224_stellungnahme_hirntod_dgn_dgnc_dgni_final.pdf Zugriff am 1.4.2017.
  2. Dag Moskopp: Hirntod, 13.
  3. Deter G. Wissenschaftliche Dienste - Deutscher Bundestag. Hirntod - Eine kritische Betrachtung des Konzeptes unter Berücksichtigung medizinischer, juristischer und ethischer Aspekte. Infobrief 2012. - Aktenzeichen wd 9 - 3010-093/12 (im Internet: http://www.bundestag.de/blob/192656/05a989e71e04a7c7747168729b081feb/hirntod-data.pdf; Stand: 19.6.2015.
  4. Dag Moskopp: Hirntod, 63.
  5. Dag Moskopp: Hirntod, 71.
  6. Il est important de souligner, que la description de l'état de mort cérébrale est bien antérieure à la date des premiers prélèvements d'organe sur cadavre en vue de greffe et que la description de la mort cérébrale précéda son utilisation à des fins thérapeutiques. (Es ist wichtig zu beachten, dass die Hirntod-Definition früher als das Datum der ersten Organentnahme aus Toten zur Transplantation war und dass die Feststellung des Hirntodes vorrangig zu therapeutischen Zwecken ist.) (Solange Grosbuis: Mort cérébrale et relation avec les familles. In: Médecine de L´Homme Nr. 210, S.23. Nach: http://www.ccmf.fr/User/docs/210_txt_74261.pdf Zugriff am 1.4.2017.)
  7. gb: Grossbritannien. Zur Feststellung des Todes. In: Dtsch Arztebl 1979; 76(17) A-1140. Nach: https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=145187 (4.4.17)
  8. Calixto Machado, Julius Korein, Yazmina Ferrer, Liana Portela, Maria de la C García, José M Manero: The concept of brain death did not evolve to benefit organ transplants. In: J Med Ethics. 2007 Apr; 33(4): 197–200. Nach: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2652772 Zugriff am 07.09.2020.
  9. Matthias Mindach: Wenn wir 'Tod' sagen, dann meinen wir nicht 'Tod'. Der Deutsche Ethikrat und der Hirntod – Anmerkungen aus medizinischer Sicht. In: Aufklärung und Kritik 1/2016. Nach: http://www.gkpn.de/Mindach_Ethikrat_AuK1-2016.pdf Zugriff am 07.09.2020.