Begriff Hirntod
Zwischen der Feststellung, dass bei einigen Komapatienten keine Hirnaktivitäten festgestellt werden kann und dem Begriff "Hirntod" vergingen Jahre. In dieser Zeit verstand die Medizin immer deutlicher, um was für einen neuen medizinischen Zustand es sich hierbei handelt, der eine neue Bezeichnung benötigte.
Entwicklung zur Bezeichnung "Hirntod"
- Am 17.01.1959 veröffentlichte Pierre Wertheimer zusammen mit Michel Jouvet und Jacques Descotes den Artikel „Diagnosis of death of the nervous system in comas with respiratory arrest treated by artificial respiration“ (Diagnose des Todes des Nervensystems im Koma bei Atemstillstand durch künstliche Beatmung behandelt).[Anm. 1]
- Jacques Descotes veröffentlichte 1959 den Artikel „Diagnostic electro-sous-corticographique de la mort du système nerveux central au cours de certains comas“ (Elektrosubkortikographische Diagnose des Todes des zentralen Nervensystems bei einigen Komata). Darin beschreibt er 4 Patienten des Jahres 1958 mit schwersten Hirnschädigungen, die im Hirntod endeten.
- Am 11.11.1959 veröffentlichte Michel Jouvet den Artikel "Electro-subcorticographic diagnosis of death of the central nervous system during various types of coma" (Elektrosubkortikographische Diagnose des Todes des zentralen Nervensystems bei verschiedenen Arten von Koma).
- 1996 tauchte der Begriff "Hirntod" erstmals im Duden auf.[1]
Zusammenfassend lässt sich hieraus sagen, dass 1959 alle Verfasser Hirntote noch in Verbindung mit Komapatienten sahen, wenngleich die meisten von ihnen mit dem Tod des (zentralen) Nervensystems. Dies sollte sich im nächsten Jahrzehnt ändern.
Wenig bekannt ist, dass am 24.08.1962 Pierre Mollaret in der Münchner medizinischen Wochenschrift den Artikel "Über die äußersten Möglichkeiten der Wiederbelebung. Die Grenzen zwischen Leben und Tod" veröffentlichte. Darin betont er, dass „die Dauer eines solchen 'Coma dépassé' nicht länger als nach Tagen gezählt“ wird.() Mitleid zeigte Pierre Mollaret im „Fall beim Coma dépassé, wo das Gehirn nur noch ein Brei ist: Es ist nicht mehr ein Lebender, der sich äußert, alles ist reduziert auf gelegentliches eintöniges Knirschen des bemitleidenswertesten der Roboter." Hervorzuheben ist hierbei, dass bereits 1962 Pierre Mollartet von der Autolyse des Gehirns schrieb.
Die Recherche von Dag Moskopp
Dag Moskopp ging der Frage nach, seit wann die Bezeichnung „Hirntod“ im deutschen Sprachraum benutzt wurde. Das Ergebnis seiner Recherche in chronologischer Reihenfolge lautet:[2]
- Reinhold A. Frohwein benutzte etwa ab 1962, spätestens seit 1964, die Bezeichnung „cerebraler Tod“.
- Hans Jacob wählte 1963 die Bezeichnung „Organtod des Gehirns“. Dies benutzte 1964 auch Wolfgang Spann.
- In einer Veröffentlichung vom 08.07.1966 verwendeten Spann und Liebhardt für den Begriff „Hirntod“ folgende Bezeichnungen: „Organtod des Gehirns“ (3x), „Gehirntod“ (2x), „cerebraler Tod“ (1x) und „Hirntod“ (1x).
- Am 03.12.1966 benutzte Hans-Rudolf Müller in seiner Publikation die Bezeichnungen „Hirntod“ (6x) und „cerebraler Tod“ (2x).
- Am 26.01.1968 lässt sich die Bezeichnung „Hirntod“ erstmals in den Medien nachweisen (ARD-Tagesschau um 19:55 und 21:57 Uhr).
- Am 01.04.1968 stand im SPIEGEL: „Hirntod ist unumkehrbar.“
- Im April heißt es in dem Papier der interdisziplinären Arbeitsgruppe um Fritz Linder „Organtod des Gehirns“ (1x) und „Gehirntod“ (6x).
- Am 10.06.1968 erläutert die ARD-Tagesschau die „Klinische Methode der Diagnose auf Hirntod durch das Enzephalogramm“.
- Am 11.08.1968 erwähnte Karl Heinrich Bauer im SWR-Wort die Erfordernis der Feststellung des „Hirntodes“ vor der Organentnahme.
- In den Jahren 1982, 1986, 1991 und1997 brachte der WB-BÄK „Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes“ heraus, die überarbeitete 3. Fortschreibung (1998) heißt „Richtlinie zur Feststellung des Hirntodes“.
- Am 30.03.2015 beschloss das BMG die 4. Fortschreibung. Darin hat das BMG die Bezeichnung „Hirntod“ aus dem Text verbannt.[Anm. 2] In der 3-zeiligen Überschrift heißt es statt dessen „... Regeln zur Feststellung des Todes ...“.
Dag Moskopp zieht als Bilanz, dass für „den Begriff 'Hirntod' erst etwa ab 1970 konsequent die Bezeichnung 'Hirntod' zugeordnet wurde.“[3]
Fazit
Dies zeigt auf, dass man rund ein Jahrzehnt nach der richtigen Bezeichnung für den Zustand Hirntod gesucht hat.
Mit der 4. Fortschreibung der Richtlinie „... zur Feststellung des Todes ...“ (2015) wurde eine neue Bezeichnung „irreversibler Hirnfunktionsausfall“ synonym eingebracht. Ob sich diese neue Bezeichnung gegen das etablierte „Hirntod“ durchsetzen kann, ist höchst zweifelhaft. Das gemeinsame Problem aller dieser Bezeichnungen ist die zentrale Frage, ob mit dieser Bezeichnung nur der Tod des Gehirns oder auch der Tod des Menschen bezeichnet werden soll.
Anhang
Anmerkungen
- ↑ Diese Bezeichnung von Hirntoten - „mort du système nerveux“ (Tod des Nervensystems) - kannte am 25.05.2019 Google nur auf 29 deutschsprachigen Internetseiten, während hingegen die von Pierre Mollaret und Maurice Goulon 6 Monate später gewählte Bezeichnung für Hirntote, „Coma depassé“ über 150 Ergebnisse aufwies. Lässt man hingegen Google im französischen Internet suchen, erbringt dies ein völlig anderes Ergebnis: für „mort du système nerveux“ rund 60.000 Fundstellen und für „Coma depassé“ rund 46.000 Fundstellen. Dieser gravierende Unterschied im deutschsprachigen Internet mag wesentlich daran liegen, dass den Kritikern des Hirntodkonzeptes die Bezeichnung "Coma depassé" zweckdienlicher war, denn somit konnten sie sprachlich die Nähe zum Koma herausstellen und die Nähe zum Tod meiden.
- ↑ Im Text kommt „Hirntod“ 11x vor, „Hirntoddiagnostik“ 2x, „Hirnfunktionsausfall“ 143x.
Einzelnachweise
- ↑ Axel W. Bauer: „Man braucht also für die Organspende Lebende, die zugleich tot sein müssen." Vortrag vom 15.12.2016 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Veröffentlicht in: kath.net (14.03.2017) Nach: http://kath.net/news/58762 Zugriff am 09.08.2019.
- ↑ Dag Moskopp: Hirntod, 17f.
- ↑ Dag Moskopp: Hirntod, 17.