Lobotomie

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Lobotomie ist die Durchtrennung von Nervenbahnen. Egas Moniz stellte fest, dass die Durchtrennung der Nervenbahnen zwischen frontalem Cortex und Thalamus psychotische Symptome mildern konnte. Walter Freemann führte diese Arbeit weiter. Von 1936 bis in die 1950-er Jahre propagierte er die Lobotomie bei verschiedenen Leiden. Etwa 40.000 bis 50.000 Patienten wurden so operiert. Eine Studie unter britischen Patienten ergab bei 41% eine Heilung oder Verbesserung, bei 28% eine geringe Verbesserung, bei 25% keine Veränderung, bei 2% war eine Verschlechterung eingetreten und 4% waren gestorben.[1]

Lobotomie ist ein neurochirurgischer Eingriff, bei dem "die Nervenbahnen zwischen dem Thalamus und dem Frontalhirn sowie Teile der grauen Substanz, also des Leitungsbahnsystems, durchtrennt werden. Der Begriff 'Lobotomie' bedeutet also: Ein Gehirnlappen wird vom übrigen Gehirn abgetrennt."[2]

1967 wurde die Lobotomie aufgegeben, nachdem in Folge dieser Operation eine Patientin des Psychiaters Walter Freeman starb.[3]

Vorgeschichte

J.F. Fulton und D.F. Jacobson von der Yale University beschäftigten sich in den 1930-er Jahren mit Untersuchungen von Lernen und Gedächtnis. Hierzu arbeiteten sie mit Becky und Lucy, zwei Schimpansinnen. Sie waren keine einfachen Geschöpfe. Wenn sie frustriert waren, konnten sie sehr tückisch werden. Im Zuge ihrer Untersuchungen wollten Fulton und Jacobson herausfinden, wie sich eine Läsion des präfontalen Cortex auf die Lernfähigkeit der Tiere auswirkt. Zunächst schädigten sie einen Stirnlappen. Es war keine besondere Wirkung zu erkennen. Dann schädigten sie den anderen Stirnlappen. Hierauf zeigte sich, dass Becky und Lucy nicht mehr frustriert reagierten. Die Reizungen, die sie zuvor "auf die Palme" brachte, schienen ihnen jetzt nichts mehr auszumachhen. Statt tückisch waren sie nun friedfertig. 1935 schilderte Jacobsen auf dem Weltkongress für Neurologie in lebhaften Worten von der Wesenswandlung. Der portugiesische Neurologe Egas Moniz soll hierauf aufgestanden sein und gefragt haben, ob ähnliche Läsionen im Gehirn psychotischer Patienten nicht eine Lösung für einige der Probleme bedeuten könnten. Fulton blieb ihm diese Antwort schuldig.[4]

Psychiatrie um 1900

Aus heutiger Sicht erscheint die Lobotomie mit der Abtrennung des Frontalhirns vom Thalamus und der grauen Substanz als unmenschlichen Eingriff. Doch man muss sich die Psychiatrie um 1900 ins Bewusstsein rufen, die Christof Kessler so beschreibt: "Moniz´ Wirken fällt in die Ära vor der Entwicklung von Psychopharmaka und Medikamenten, die gegen Psychosen helfen. Die psychiatrischen Kliniken waren überfüllt mit unheilbar kranken 'Irren, die tobten, schrien und sowohl ihre Umgebung als auch sich selbst gefährdeten. In einem Psychiatriemuseum, zum Beispiel in Leipzig, können die Gerätschaften zur Ruhigstellung der bemitleidenswerten damaligen Patienten noch besichtigt werden: Zwangsjacken, Netze und Bottiche für kalte Bäder und Güsse. Man bekommt eine vage Vorstellung des Grauens und Leids, welches in diesen Anstalten herrschte. Die medikamentööse antipsychotische Behandlung der Patienten lag damals noch in weiter Ferne. Die Ära der Neuroleptika sollte erst 1951 mit der Einführung von Chlorpromazin beginnen.
Moniz´ primäres Ziel bestand in der Ruhigstellung der psychisch kranken Patienten und deren Integration in die Gesellschaft."[5]

Zunächst sprizte Moniz mit einer Kanüle Alkohol in die weiße Substanz des Frontalhirns, um durch die ätzende Wirkung des Alkohols die dort gelegenen Verbindungen zu zerstören. Dies war jedoch zu unpräzise. Daher verwendete er später das zu diesem Zweck eigens angefertigte Messer, das 'Lobotom', einem Sichel ähnlichen Skalpell mit einer kleinen schmalen Klinge. "Es wurde durch einen Hautschnitt und einer Bohrung durch den Schädelknochen in den vorderen Teil des Gehirns getrieben. Dann wurden mit Rechts-links-Bewegungen die Leitungsbahnen zum Frontallappen durchtrennt."[6]

Durch diese Operation wurde "ein nichtmenschlicher, animalischer Zustand hergestellt". Als Folge traten Persönlichkeitsveränderungen mit Störungen des Antriebs und der Emotionalität auf. Die Patienten "wurden ruhig und apathisch". Das war in den psychiatrischen Kliniken der damaligen Zeit das primäre Ziel. Dieses Ziel hat Moniz mit der Lobotomie erreicht, allerdings - wie wir heute wissen - "mit der Folge einer gravierenden Zerstörung der Persönlichkeit der Betroffenen."[7]

Opfer der Lobotomie

Obwohl Moniz zahlreiche solcher Eingriffe durchführte, interessierte ihn das Schicksal der Patienten und den Ausgang der Operationen wenig. Hierzu ein Fallbeispiel: Eine 59-jährige Witwe wurde mit ängstlichen Depressionen am 16.11.1935 in die Psychiatrie aufgenommen. Sie hatte 8 Schwangerschaften, darunter 3 Totgeburten. Die Depression wurde ausgelöst, nachdem eines ihre Kinder erkrankte und 3 Wochen später verstarb. Sie hatte bereits mit 39 Jahren 6 Monate lang traurig im Bett verbracht und ihre Arbeit aufgegeben. Sie machte sich Selbstvorwürfe. Nach der stationären Aufnahme wurde sie für die Lobotomie ausgewählt. Der Eingriff sollte unter Vollnarkose erfolgen, doch die Witwe ar so aufgebracht, dass sie die Infusionsnadel, über welche die Narkose erfolgen sollte, herausriss. Somit wurde die Operation unter Verwendung von Novocain in Lokalanästhesie durchgeführt. Als das in ihr Gehirn eingeführt Lobotom gedreht wurde, schrie die Witwe vor Schmerz auf. Somit wurden insgesamt nur 2 Schnitte mit dem Lobotom ausgeführt. Nach der Operation sei die Witwe ruhig gewesen. Doch nach Tagen entwickelte sie Fieber bis zu 39°C. Auch behauptete sie dass sie nicht in einem Krankenhaus sei, sondern in einem Haus, in dem man Leute tötete. Man habe sie schon zweimal umgebracht, doch sie sei immer noch hier. Als sie am folgenden Tag sehr agitiert war, verabreichte man ihr Opium und ein Sedativum. Moniz dachte schon an eine Wiederholung der Operation, doch an den folgenden Tagen verbesserte sich ihre Unruhe. Die letzte Beobachtung der Patientin erfolgte bereits 7 Tage nach der Operation. Moniz sah sie als geheilt an und schickte sie zurück in die Psychiatrie.[8]

Das wohl bekannteste Opfer der Lobotomie war Rosemary Kennedy (1918-1963), Schwester von John F. Kennedy (1917-1963), Robert F. Kennedy (1925-1968), Edward Kennedy (1932-2009), um nur die berühmtesten ihrer 8 Geschwister zu nennen. Rosemary Kennedy hatte eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Sie besuchte gerne Theater- und Opernvorstellungen und hatte ein sonniges Gemüt. Als Rosemary zur jungen Frau heranwuchs, beobachtete der streng katholische Vater Joseph P. Kennedy, der als Casanova galt und mehrere außereheliche Verhältnisse unterhielt, zunehmend mit Sorge, dass sich Männer für seine Tochter interessieren könnten und befürchtete ein uneheliches Kind. Auf der Suche nach einer Lösung stieß er auf Lobotoomie, die damals als harmloser Eingriff galt. Er holte sich Rat bei Dr. Walter Jackson Freeman, einem Arzt, der den Ruf eines Lobotomisten hatte. Freeman hatte als Arzt an über 3.000 Patienten Lobotomie vorgenommen. Freeman arbeitete sich nicht durch den Schädelknochen, sondern manövrierte eine Art Eispickel in die Augenhöhle hinein, direkt zwischen Augapfel und dem Dach der knöchernen Augenhöhle hindurch. Dann klopfte er mit einem Hämmerchen die Spitze des Geräts von dort aus in das Vorderhirn und vührte zwei vertikale Bewegungen aus, um die Verbindungen des Vorderhirns zum übrigen Nervensystem zu durchtrennen. Ohne seine Frau Rose Kennedy (1890-1995) zu informieren, entschied Joseph Kennedy, den Eingriff im November 1941 an der 23-jährigen Rosemary durchführen zu lassen. Die Operation missglückte. Rosemary konnte danach weder gehen noch sprechen. Es dauerte Jahre, bis sie diese Fähigkeiten teilweise wiedererlangte. Anschließend wurde Rosemary schwer behindert in einem Pflegeheim untergebracht bzw. versteckt, zunächst in der Nähe von New York, dann 57 Jahre lang in Wisconsin, weit weg von der heilen Welt der Kennedys. Angeblich wusste nicht einmal der FBI, wo sich die Schwester des Präsidenten befand. Erst als Joseph Kennedy Jahrzehnte später selbst einen Schlaganfall erlitten hatte und behindert im Rollstuhl saß, näherte sich die Familie der verstoßenen Tochter wieder etwas an. Als Rose Kennedy ihre Tochter nach mehr als 20 Jahren zum ersten Mal im Pflegeheim besuchte, schlug diese verzweifelt und in Rage auf ihre Mutter ein. Am 07.01.2005 starb Rosemary Kennedy, nachdem sie mehr als 60 Jahre im Pflegeheim verbracht hatte, im Alter von 86 Jahren "als Opfer der Lobotomie, von denen viele bis heute unbekannt sind."[9]

Heutige Einschätzung der Lobotomie

Christof Kessler sieht die Lobotomie heute so: "Retrospektiv betrachtet handelte es sich bei der Lobotomie um eine Methode, die zum Ziel hatte, Menschen zu verstümmeln. Damals mag ihre Anwendung bei einigen wenigen Patienten mit unheilbaren Psychosen aufgezeigt gewesen sein. Dass sie über Jahrzehnte an Menschen ausgeführt wurde, um sie ruhigzustellen und ihnen ihr Glücksempfinden, ihre Spontanität und Menschlichkeit zu rauben, ist ein Verbrechen, das beim Namen genannt werden muss und nicht den Nobelpreis verdient."[10]

Der Romann "Einer flog über das Kuckucksnest" von Ken Keseys, der 1975 von Jack Nicholson verfilmt wurde, traten in der USA "eine breite Diskussion über das Schicksal von Insassen von psychiatrischen Einrichtungen losgetreten und mit dazu beigetragen, dass die Lobotomie aus dem Repertoire der Psychochirurgie verschwunden ist."[11]

Heutige Anwendung

Der Neurologe Antonio R. Damasio beschreibt einen Patienten mit Trigeminusneuralgie, bei dem alle Medikamente versagten. Er saß fast unbeweglich am Bett, voller Angst, bei irgend einer Bewegung Schmerzen auszulösen. An ihm wurde von Almeida Liima eine Lobotomie durchgeführt. 2 Tage später saß er mit anderen Patienten am Tisch und spielte Karten. Lima fragte ihn nach seinen Schmerzen. Fröhlich sah der Mann auf und sagte: "Oh, die Schmerzen sind unverändert, aber ich fühle mich jetzt gut, vielen Dank." Damasio schlussfolgert daraus: "Offenbar hatte die Operation also die emotionale Reaktion unterbunden, die ein Teil dessen ist, was wir Schmerz nennen. Sie hatte das Leiden des Mannes beendet. Sein Gesichtsausdruck, seine Stimme und sein Benehmen ließen auf angenehme Zustände, nicht Schmerzen schließen. Dagegen schien die Operation die Vorstellung der lokalen Veränderung in der vom Trigeminusnerv versorgten Körperregion kaum verändert zu haben, und deshalb beschrieb der Patient die Schmerzen auch als unverändert. Zwar konnte das Gehirn kein Leiden mehr erzeugen, aber es produzierte noch 'Schmerzvorstellungen', das heißt, es war zur normalen Verarbeitung der somatosensiblen Katierung einer Schmerzlandschaft in der Lage."[12]

Anhang

Anmerkungen


Einzelnachweise

  1. Rita Carter: Das Gehirn. Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen. München 2010, 11.
  2. Christof Kessler: Glücksgefühle. Wie Glück im Gehirn entsteht und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung. München 2017, 207.
  3. Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. München 2016, 25.
  4. Antonio R. Damasio: Descartes´ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 6. Auflage. Berlin 2010, 113.
  5. Christof Kessler: Glücksgefühle. Wie Glück im Gehirn entsteht und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung. München 2017, 207.
  6. Christof Kessler: Glücksgefühle. Wie Glück im Gehirn entsteht und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung. München 2017, 208.
  7. Christof Kessler: Glücksgefühle. Wie Glück im Gehirn entsteht und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung. München 2017, 209.
  8. Siehe: Rainer Fortner: Egas Moniz (1874-1955) - Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung der Leukotomie und ihrer ethischen Implikantionen. (med. Diss.) Würzburg 2004. Nach: Christof Kessler: Glücksgefühle. Wie Glück im Gehirn entsteht und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung. München 2017, 209-211.
  9. Christof Kessler: Glücksgefühle. Wie Glück im Gehirn entsteht und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung. München 2017, 215.
  10. Christof Kessler: Glücksgefühle. Wie Glück im Gehirn entsteht und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung. München 2017, 216.
  11. Christof Kessler: Glücksgefühle. Wie Glück im Gehirn entsteht und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung. München 2017, 217.
  12. Antonio R. Damasio: Descartes´ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 6. Auflage. Berlin 2010, 349f.