Pierre Wertheimer 1960

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Mit "Pierre Wertheimer 1960" wird der 1960 publizierte Artikel über das Therapieende nach Feststellung des Hirntodes bezeichnet.

Dag Moskopp schreibt über Pierre Wertheimer und seiner Arbeitsgruppe:

Obwohl in der Literatur bisher nicht hinreichend gewürdigt, wurde die eigentliche Pionierarbeit für das moderne Verständnis des Hirntod-Syndroms (synoptisch, praktisch, konsequent) von einem der Mitbegründer der Neurochirurgie in Frankreich, Pierre Wertheimer (...), mit seiner Arbeitsgruppe in Lyon (Michel Jouvet, Jacques Descotes, Jacques de Rougemont geleistet. Dort wurden bereits Atropintests angewandt und es wurde versucht, die Unsicherheit der Oberflächenelektroden durch invasiv angebrachte Tiefenelektroden möglichst auszuschalten. Bei den hierzu erforderlichen Bohrlochtrepantationen kamen nicht selten Zeichen der Hirnautolyse zur Beobachtung, wenn es in den Berichten hieß, dass Gehirnmasse wie Schleim aus den Bohrlöchern tropfte.[1]

9 Monate vor dem Bericht von Pierre Mollaret und Maurice Goulon im Jahre 1959 veröffentlichte Pierre Wertheimer und seine Arbeitsgruppe den Bericht von 4 Fällen unter der Überschrift "sur la mort du système nerveux" (Der Tod des Nervensystems).[2] Es wurde in aller Vorsicht noch nicht vom "Hirntod" oder "Tod des Menschen" geschrieben, aber vom "Tod des Nervensystems", denn dieser konnte anhand dieser 4 Fälle belegt werden. Welche Bedeutung und Tragweite der "Tod des Nervensystems" hatte, sollte sich ein Jahr später zeigen.

Pierre Wertheimer und seine Arbeitsgruppe benutzten als Erste die Bezeichnung "mort de l´encéphale" (Tod des Gehirns).[3]

Im Jahr 1960 wurde ein 13-Jähriger in das Krankenhaus in Lyon zu Wertheimer eingeliefert. Eine Karotisangiographie zeigte einen intrakraniellen Kreislaufstillstand ("arrêt circulatoire totale"). Wertheimer nahm aus therapeutischen Gründen eine Bohrlochtrepanation okzipital vor, fand aber kein Hämatom, sondern eine gravierende Steigerung des intrakaniellen Druckes. Nach einer Wartezeit von 32 Stunden und dem Erlöschen aller Hirnstammreflexe, stellte er die künstliche Beatmung ab ("arrêt du respirateur artificiel"). Als Kriterien für ihr Handeln nannten sie: Nachweis der völligen Areflexie, keine Eigenatmung, das EEG weist eine Nulllinie auf und eine angiographische Darstellung der Hirndurchblutung.[4]

Am 10.03.1060 erlitt der 13-jährige Yves P. einen Verkehrsunfall. Um 11 Uhr wurde er in eine Klinik eingeliefert. Eigenatmung und spinale Reflexe waren vorhanden. Als aber seine Körpertemperatur auf 31°C absank, wurde er gegen 23 Uhr zu Pierre Wertheimer in die Klinik verlegt. Dort musste er an die Engström-Beatmung angeschlossen werden. Die Skalpeelektroden lieferten eine hirnelektrische Stille. Herzschlag und Blutdruck blieben nach Verabreichung von 3 mg Atropin i.v. stabil. Die Vier-Gefäß-Angiographie erbrachte den Nachweis des Stillstands der Hirndurchblutung (arrêt circulatoire). Ein Bohrloch über einer Fraktur der hinteren Schädelgruppe zeigte kein Epiduralhämatom. Nach der Duraschlitzung zeigte sich ein erhebliches Vorpressen des Kleinhirns als Ausdruck des krankhaft erhöhten Drucks in der hinteren Schädelgrube. Der Blutdruckabfall nach 24 Stunden konnte nicht kompensiert werden. Nach 32 Stunden war der Junge komplett areflektorisch mit residualer Herz-Kreislauf-Funktion. Dieser dokumentierte Fall ist auch aus heutiger Sicht nach den Hirntodkriterien erfüllt. Am 11.03.1960 setzte Pierre Wertheimer diesen Zustand mit dem Tod des Jungen gleich und beendete die Therapie (Arrêt du respiarteur artificiel). Wertheimer begründete dies damit:[5]

Es erscheint uns vergeblich, bei derartig Erkrankten oder Verletzten den Herzstillstand abzuwarten, wenn sich nur noch die Augen entzünden können und die Extremitäten den Aspekt oder den Geruch eines Kadavers bietet. Das starre Beharren auf Weiterbeatmung wirkt in dieser Situation als grausam der Familie gegenüber, und stellt letztlich auch eine peinliche Überbranspruchung der Pflegekräfte dar. Desweiteren blockiert man damit nutzlos Atemmaschinen, von denen wir nur wenige haben.[6]

Am 11.03.1960 beendeten Pierre Wertheimer mit seinem Team die Beatmung bei einem 13-jährigen Jungen nach intensivmedizinischer Behandlung aufgrund eines schweren Verkehrsunfalls nach Feststellung des Hirntods durch entsprechende Ergebnisse in klinischer Untersuchung, EEG und Angiographie. Dies war die erste publizierte Beendigung der Therapie nach Feststellung des Hirntodes.[7]

Am 17.01.1959 veröffentlichte Pierre Wertheimer zusammen mit Michel Jouvet und Jacques Descotes den Artikel "Diagnosis of death of the nervous system in comas with respiratory arrest treated by artificial respiration" (Diagnose des Todes des Nervensystems im Koma bei Atemstillstand durch künstliche Beatmung behandelt).[8]

Wertheimer et al und Jouvet beschrieben "den Tod des Nervensystems" und setzten den Zustand mit der Herz-Lungen-Vorbereitung der Physiologen gleich. Sie gingen weiter, um vorzuschlagen, das Beatmungsgerät zu stoppen, wenn der Tod des Nervensystems klinisch und durch "das wiederholt nachgewiesene Fehlen einer elektroenzephalographischen (EEG) Aktivität sowohl im Kortex als auch im Zwischenhirn und wenn genügend Zeit, 18-24 Stunden, gegeben wurde"[9]

"Es bleibt unklar, weswegen diese bis heute wegweisende Erstpublikation weit weniger Beachtung findet als die spätere Publikation von Mollaret und Goulon aus Paris (Oktober 1959). Die Pariser Gruppe wählte die Bezeichnung 'Coma dépassé', fügt aber ihrer Veröffentlichung im Unterschied zur Lyon-Grujppe keine Angiographie-Befunde bei."[10]

1. HTD zum Zweck des Therapieendes

Pierre Wertheimer und sein Team (J. Rougemont, J. Descotes und Jouvet M. Données beschrieben mit ihren Untersuchungen an dem 13-jährigen Yves P. die erste dokumentierte HTD zum Zweck eines anschließenden Therapieendes. Sie beinhaltet:

[11]

Wertheimer P, de Rougemont J, Descotes J, Jouvet M (1960) Données angiographiques relatives à la mort de l’encéphale au cours des comas avec arrêt respiratoire (Coma dites dépassés). Lyon Chirurgical 56: 641-648


Anhang

Anmerkungen


Einzelnachweise

  1. Dag Moskopp: Hirntod. Stuttgart 2015, 75.
  2. Dag Moskopp: Hirntod, 75.
  3. Dag Moskopp: Hirntod, 76.
  4. Dag Moskopp: Hirntod, 75f.
  5. Pierre Wertheimer. Zitiert nach: Dag Moskopp: Hirntod: Konzept und Kontext. In: Stephan M. Probst: Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht. Leipzig 2019, 40f.
  6. Wertheimer et al. 1960, S. 63. Zitiert nach: Dag Moskopp: Hirntod: Konzept und Kontext. In: Stephan M. Probst: Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht. Leipzig 2019, 41.
  7. Wertheimer P, de Rougemont J, Descotes J, Jouvet M (1960) Données angiographiques relatives à la mort de l’encéphale au cours des comas avec arrêt respiratoire (Coma dites dépassés). Lyon Chirurgical 56: 641-648. Nach: Moskopp D (2017) Brain Death: Past, Present and Future. J Intensive & Crit Care Vol. 3 No. 3:32. Nach: https://criticalcare.imedpub.com/brain-death-past-present-and-future.pdf Zugriff am 12.12.2020.
  8. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/13633814 Zugriff am 29.05.2019.
  9. Calixto Machado, Julius Korein, Yazmina Ferrer, Liana Portela, Maria de la C García, and José M Manero: The concept of brain death did not evolve to benefit organ transplants. In: J Med Ethics. 2007 Apr; 33(4): 197-200. Nach: https://europepmc.org/articles/pmc2652772 Zugriff am 22.07.2019.
  10. Dag Moskopp: Hirntod: Konzept und Kontext. In: Stephan M. Probst: Hirntod und Organspende aus interkultureller Sicht. Leipzig 2019, 40.
  11. Dag Moskopp: Das Konzept des Hirntodes wurde in Europa zwischen 1952 und 1960 entwickelt. In: Nervenheilkunde 6/2017, 423-43. Nach: https://lvno.physio-deutschland.de/fileadmin/data/be_bb/News/pdfs/Dr_Moskopp-Artikel_2017.pdf Zugriff am 12.12.2020.