Neuronale Verletzungen: Unterschied zwischen den Versionen

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"Im ganze gesehen muß man mit der Zuordnung bestimmter psychischer Veränderungen zu einem bestimmten Hirngebiet vorsichtig sein."<ref name="Umb383"></ref>
"Im ganze gesehen muß man mit der Zuordnung bestimmter psychischer Veränderungen zu einem bestimmten Hirngebiet vorsichtig sein."<ref name="Umb383"></ref>
== Chronik  ==
=== Vorchristlicher Zeit ===
Der Papyrus Smith (um 1550 v.C.) beschreibt in den Fällen 20 und 22 von massiven Verletzungen der Temporalgegend, die zur Sprachlosigkeit der Patienten führt.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 4. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Alkmaion von Kroton]] (5. Jh. v.C.) untersuchte den Sehnerv. Er unterschied  zwischen  Denken  und  Wahrnehmen  und  identifizierte  des  Gehirns  als  Sitz  des seelischen.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 5. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref> Diese Auffassung blieb aber lange Zeit nur eine von vielen.
[[Hippokrates]] (460-370 v.C.) sah das Gehirn als Zentrum des Denkens und Fühlens an. Er dürfte keine anatomische Untersuchungen an Menschen oder Tieren vorgenommen haben. Dennoch wusste er, dass  Verletzungen einer Kopfseite zu Krämpfen oder Lähmungen der Extremitäten auf der gegenüberliegenden Seite führen. In seiner  Schrift "Über die heilige Krankheit" bezeichnete er Epilepsie als eine Gehirnkrankheit und nicht als eine göttliche Verklärung. Das Gehirn gilt als das Organ des Denkens, der Wahrnehmung, der Beurteilung von Gut und Böse,der Empfindung von Kummer und Sorgen, aber auch als das Organ geistiger Anfälle und Verwirrungen (Hippokrates, 1934, S. 59).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 5. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
Hippokrates beschrieb in der Schrift über die Kopfverletzungen Symptome wie Nackensteifigkeit, Fieber, Erbrechen, Krämpfe und Delirien, woraus er jeweils auch die Prognose ableitete. Die Schwere einer Verletzung wurde am Ausmaß der geistigen Beeinträchtigung gemessen, jedoch nicht weiter differenziert in Sprach-, Gedächtnis- oder Sehstörungen.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 11. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Platon]] (428-348 v.C.) nahm von einer Dreiteilung der Seele an: Im Gehirn sah er den rationalen, unsterblichen Teil der Seele an, im Körper die beiden sterblichen Teile: die affektive und emotionale Seele im Brustraum, sowie der Hunger und Durst auslösende  Anteil  (Begierde)  im  oberen  Bauchraum  (Timaios  69a-72d). Dem Menschen sprach er alle drei Seelen zu, den Tieren nur die beiden sterblichen Seelen des Körpers. Im "Phaidon" (96b) ließ er Sokrates die Frage stellen, ob der Mensch durch Blut,  Luft,  Feuer  oder  vielmehr  durch  das  Gehirn  denke,  da  dieses  für  sämtliche Wahrnehmungen  (Sehen,  Hören,  Riechen)  verantwortlich  sei.  Platon antwortete, dass aus den Wahrnehmungen Gedächtnis und Vorstellungen bzw. Meinungen hervorgehen und daraus schließlich Erkenntnis entstehe.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 6. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Aristoteles]] (384-322 v.C.) stellte fest, dass der Mensch von allen Lebewesen  das  größte  Gehirn  habe  und  dass  die  männlichen  größer  ist  als  die  weiblichen (Aristoteles,  1983,  S.  155). Zusammen mit Empedokles  (495-435 v.C.)  hielt Aristoteles das Herz für das Organ der Sinne ("proton aisthetikon") und den Ursprungsort der Bewegungsausführung sowie als Sitz der Seele (Aristoteles, 1986, S. 331-333). Da Aristoteles bei der Berührung des Gehirns an einem lebenden Tier keine Reaktion auslösen konnte, stritt er einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Gehirn und Sinnesorganen ab (Aristoteles,  1983,  S.  149). Dennoch sah er das Gehirn alsnotwendigen Gegenpol zum Herzen an (Aristoteles, 1983, S. 151-153; vgl. Clarke &Stannard, 1963).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 7. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Herophilos von Chalkedon]] (325-255 v.C.) Gedanken sind vor allem durch die Paraphrasen in den Schriften des [[Galenos]] (ca. 128-199 n.C.) erhalten. Herophilos hat die von Aristoteles bestrittene psycho-physische Relevanz des Gehirns wiederbelebt. Es sah das Gehirn als Sitz des führenden Prinzips der Seele an.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 7. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Poseidonius]] (135-51 v.C.) beschrieb den Verlust der Vernunft bei einer Verletzung im Bereich des mittleren Ventrikels.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 11. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
=== 0-1200 ===
[[Aulus Cornelius Celsus]] (25 v.C. - 50 n.C.) weist in seinen Schriften hin, dass die Griechen eine Lähmung des ganzen Körpers "apoplexia", eine teilweise Lähmung "paralysis" nannte. Dabei würden Apoplexie, so es der Betroffene überlebte, zu Gedächtnisschwund führen.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 9. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Valerius Maximus]] (1. Jh.) beschrieb einen gelehrten Mann aus Athen, dem ein Stein auf den Kopf fiel und der daraufhin das Gedächtnis für Buchstaben verlor (Kempf, 1888, S. 51 [Lib. I, Cap. VIII, -2]). Valerius gab an, dass es für den Mann ein sehr großer Schmerz war, damit plötzlich alle Früchte seiner Gelehrsamkeit verloren zu haben.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 8. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Plinius der Ältere]] (23-79) hob die geistigen Fähigkeiten der Menschen hervor, merkte jedoch an, dass keine andere menschliche Fähigkeit derart verletzbar ("fragilis") sei. Hierzu führte er einige Beispiele auf. So verwies er auf einen Mann, der vom Dach gefallen war und danach weder seine Mutter noch seine Freunde erkannte. Ein anderer Mann hatte nach einem Unfall seinen Namen vergessen. Daraus schloß Plinius, dass Verletzungen und Krankheiten des Gehirns das ganze Gedächtnis als auch spezifische Fähigkeiten betreffen könnten.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 8. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Soranus von Ephesos]] (98-138) grenzte Apoplexie von ähnlichen Erscheinungsformen ab. Offen ist dabei, ob er "zitternde und undeutliche Sprache"  und "unmotivierte Stockungen in der Rede" als aphasischer  Störungen angesehen hat (Creutz,  1966,  S.  99).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 9. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Tertullian]] (150-220) sah das Herz als Sitz der Seele an. Dabei verwies er auf die Lehren der Ägypter, der Orphiker und des Empedokles (von Staden, 1989, S. 316).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 12. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Nemesios von Emesa]] (4. Jh., Bischof von Emesa) bildete die Ventrikellehre aus. Er begründete sie mit dem Hinweis auf den Verlust einzelner geistiger Funktionen.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 11. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Costa ben Luca]] (864-923), [[Rhazes]] (865-925) oder [[Avicenna]] (980-1037) kam eine bedeutende Rolle bei der Transmission der Ventrikellehre vomfrühen zum Hochmittelalter zu.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 13. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Wilhelm von Saliceto (1210-1286) schrieb von "ventriculus", wobei unklar ist, was er damit meinte. Doch der Begriff deutet auf mentale Ausfallserscheinungen bei Verletzungen hin (Sudhoff, 1914, 169-176; Kutzer, 1993, 203).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 13. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
Wilhelm von Saliceto erwähnte eine Differenzierung der Motorik vor und verlegte die willkürliche Bewegung ins Großhirn, die unwillkürliche ins Kleinhirn (Neuburger, 1897, S. 14, 49).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 17. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Hildegard von Bingen]] (1098-1179) bezog ihre cardiozentrische Seelenlehre ganz aus der biblischen Tradition. Erst nachdem die aristotelischen Schriften ab dem späten 12. Jh. in Europa übersetzt und verbreitet wurden, griff man physiologische Argumente für das Herz als Sitz der Seele auf.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 14. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Alfred von Sareshel]] (1154-1220) und [[Guy de Chauliac]] (1298-1368) waren Vertreter der Ventrikellehre (Pagel, 1973, S. 104-105).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 14. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[Jacob Zabarella]] (1532-1589) sah das Herz als Sitz der Seele an Er argumentierte dass das Gehirn das Organ des Denkens und der Bewegung sei, doch beides könne nicht ohne den Spiritus vitalis, der im Herzen gebildet werde, statthaben (Pagel, 1973, S. 106).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 14. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
=== 1200-1600 ===
[[Teodorico Borgognoni]] (1205-1298, Bischof und Arzt) beschrieb eine Beobachtung seines Lehrers [[Hugo von Lucca]] (1160-1259) mit, der sich darüber verwundert hatte, dass eine Hirnverletzung bis auf die hintere Hirnhöhle, bei dem Patienten (ein Stuhlmacher) zu keiner Gedächtnisschwäche führte, sondern zu einem Verlust seiner Geschicklichkeit (Theodorich, 1955, Bd. 1, S. 109).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 17f. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Mondino dei Luzzi]] (1275-1326) führte Störungen einzelner mentaler Vermögen auf eine Läsion der entsprechenden Hirnteile zurück (Sudhoff, 1914, 177).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 18. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Gregor Reisch]] (1470-1525) fertigte in seiner "Margarita philosophica" grobe Andeutungen von Gehirnwindungen an.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 15. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[Hans von Gersdorff]] (1445-1529) fertigte in seinem "Feldbuch der Wundarznei" (1517/1967) eine naturgetreue Abbildung der Gehirnoberfläche an(vgl. Abb. 3), die sogar auf einer in Straßburg durchgeführten Sektion basiert.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 15. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Leonardo da Vinci]] (1452-1519) zeigt in seinen Skizze, dass er ein Anhänger der Ventrikellehre war. ER modifizierte jedoch die Ventrikellehre dahingehend, dass er die Ursprünge der Hirnnerven im mittleren Ventrikel ansetzte und verlegte das Sensorium dorthin (da Vinci,1940, S. 105-106; Keele, 1963). Diese Veränderung ist insofern bedeutsam, als das Ordnungssystem der geistigen Vermögen durch einen anatomischen Befund korrigiert werden konnte, wodurch  die  psychologischen  Voraussetzungen  dieses  Systems  in  Frage  gestellt  waren.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 16. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Berengario da Carpi]] (1470-1530) Zeichnungen zeigen deutlich,  dass er  sowohl  Sektionen  wie  auch  therapeutische  Trepanationen  durchführte. So konnte er seinem Lehrbuch anatomische Abbildungen beifügen, die als Beispiel für den Übergang zu einer realistischen Darstellung des Gehirns dienen können. Dabei verwendete er große Sorgfalt darauf,  Lage  und  Ausdehnung  der  Ventrikel  im  Gehirn  naturgetreu  abzubilden, hielt er gleichwohl an der Ventrikellehre mit nur geringfügigen Modifikationen fest (da Carpi,1523/1959).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 15. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Leonard Fuchs]] (1501-1566) und [[Francisco Vallés]] (1524-1592) lokalisierten die Trias Galens (imaginatio, ratiocinatio, memoria) in der gesamtenfesten Substanz des Gehirns, wobei sie sich ausdrücklich auf therapeutische Erfahrungen, nämlich die Wirksamkeit von Medikamenten im gesamten Kopf, beriefen (Kutzer, 1993, 205).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 18. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Andreas  Vesalius  (1514-1564) war ein früher und scharfer Kritiker der Ventrikellehre. Ihren Vertretern warf er vor, das Gehirn niemals untersucht zu haben. Er verwies darauf, dass auch Gehirne von Tieren Ventrikel  besitzen  und  diese wohl  kaum  eine  vernünftige  Seele  zugeschrieben  werden könne.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 15. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
Der galenischen Physiologie folgend nahm er an, dass der vom  Herzen  kommende  Spiritus  vitalis  in  den  Ventrikeln  zu  Spiritus  animalis  umgewandelt werde. Dieser Prozess sagt seiner Ansicht nach jedoch nichts über die Seele ("princeps animi") aus.<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 16. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Realdo Colombo]] (1516-1559) beschränkte sich auf eine reine Beschreibung der Ventrikel, ohne auf ihre Funktion oder gar die geistigen Vermögen einzugehen (Colombo, 1559, S. 191).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 17. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Volcher Coiter]] (1534-1576) widmete sich - vermutlich aufgrund seiner praktischen Erfahrungen als Arzt - dem Zusammenhang von Hirnläsion und Funktionseinschränkungen.  Im  Tierversuch  entfernte  er  ganze  Teile  des  Gehirns  bis  zu  den Ventrikeln, ohne daß er spezifische Funktionseinschränkungen (Stimme, Atmung, Wahrnehmung, Motorik) erkennen konnte (Neuburger, 1897, S. XXIV; Herrlinger, 1952).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 18. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Costanzo Varolio (1543-1575) vermutete, dass der Spiritus durch die Ventrikel und durch das gesamte Gehirn fließe wie das Licht durch das Dunkel. Damit schloss er jegliche Lokalisierung nervöser Funktionen aus (Varolio, 1591; O'Malley, 1963).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 17. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
[[Franciscus Catus (?-?) fest, dass man die Tödlichkeit einer Verletzung des hinteren Ventrikels experimentell leicht nachweisen könne (Neuburger, 1897, S. XXVI).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 18. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
=== 1600-1800 ===
[[René  Descartes]]  (1596-1650) entwickelte die philosophische Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen einer immateriellen, unsterblichen res cogitans (Seele) und einer materiellen res extensa (Körper), die Descartes als völlig eigenständig und ausschließlich beim Menschen miteinander vereinigt  konzipierte.  Aufgrund  dieser  Zweiteilung  entwickelte  er  eine  rein  mechanistische Theorie der Körperfunktion, in der die organischen Prozesse nach denselben Regeln ablaufen wie die anorganischen. Diese Physiologie sowie die Annahme einer Interaktion von Seele und Körper bildeten den Ausgangspunkt für Descartes' Theorie der Hirnfunktion (Descartes 1637/1984a).<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 19. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
<ref>Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie, 20. Nach: http://ftp.mpdl.mpg.de/mpiwg-berlin/data/datastreams-single/escidoc_643844+content+content.0 Zugriff am 06.04.2021.</ref>
=== 20. Jh. ===
'''1954''' schien [[E. Kretschmer]] eine Arbeit über Charakterveränderungen nach Kopfverletzungen veröffentlicht zu haben. Diese fallen besonders deutlich bei Verletzungen [[Orbitalhirn]] auf. Neurologische Verletzungen können zu einer vorübergehenden oder dauernden Senkung des vitalen Tonus führen. Bei den contusionellen Dauerschäden und Folgen von offenen Hirnverletzungen des Krieges ist meist eine dauernde Senkung des Persönlichkeits- und Leistungsniveaus zu beobachten, die regelmäßig zu psychischen Reaktionen führt. Daher wurde schon vor Jahren mit einer Psychotherapie von Hirnverletzten begonnen.<ref>Siehe: Med. Klinik 49.2 (1954), 1813f.</ref>
[[E. Kretschmer]] hielt auf der 18. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde, Versicherungs- und Versorgungsmedizin einen Vortrag zu Hauptthema "Verletzungen der Schädel-Hirn-Basis und ihre psychiatrisch-neuronalen Folgen": In 60% verlaufen die Brüche durch die mittlere Schädelgrube, wobei [[Hypophyse]] und [[Zwischenhirn]] in Mitleidenschaft gezogen werden. Indirekte Nachwirkungen entstehen später nach Blutungen durch cystische Organisation und Vernarbung. Der Aufbau der Persönlichkeit wird gestört durch Reizung und Ausfälle, so dass Aggressionstrieb, Änderung des Sexualtriebs und der Instinktregulation vorkommen. Somatisch werden Fettsucht oder Magersucht, Poydipsie und Polyurie beobachtet. Triebstörungen stellen sich meist erst später ein. Verletzungen im [[Orbitalhirn]] führen zu dynamischen Störungen, Beschleunigung des Gedankenablaufes, Störungen der Affekte und des Taktes, Letzteres kann zum wirtschaftlichen Ruin führen, so dass derartige Verletzungen schlimmer sind als ein Gliedverlust. Die Begutachtung dieser Patienten gibt Kretschmer als sehr schwierig an.<ref>Siehe: Med. Klinik 49.2 (1954), 1417.</ref>
'''1958''' stellten [[O.H. Arnold]] und [[H. Hoff]] 2 Fälle vor, bei denen angenommen werden kann, dass organische Faktoren zu [[Schizophrenie]] führen können. In beiden Fällen führte eine Lungenentzündung zu einem typisch katatonen phantastischen Verwirrtheitszustand. Beide Patienten waren vor der [[Pneumonie]] anscheinend völlig unauffällig. In beiden Fällen konnte jedoch eine schizophrene Erbbelastung nachgewiesen werden. "Der organische, offenbar in der Intoxikation des Gehirns zu suchende Faktor war stark genug, um die beiden Patienten die Symptome einer schizophrenen Verwirrtheit hervorzurufen. Während aber bei dem einen Patienten nach Abklingen der [[Pneumonie]] eine völlige Heilung eintrat, ging der Verwirrtheitszustand des anderen in  eine schizophrene Prozeßpsychose über. Man kann daher annehmen, daß körperliche Faktoren ebenfalls zu einer Persönlichkeitszersprenung führen können und daß dann weitere Causalfaktoren dafür verantwortlich sind, ob nach Wegfall der organischen Auslösung Heilung eintritt oder eine [[Schizophrenie]] beginnt."<<ref>O.H. Arnold, H. Hoff: Synthese in der Schizophreniefrage. In: Med. Welt 53.1 (1958), 9.</ref>
'''1960''' beschrieb [[W. Klages]] die "Erkrankungen des [[Stirnhirns]]": "Die traumatischen [[Läsionen]] mit ihren unten zu schildernden vielfach charakteristischen Ausfallerscheinungen nehmen den ersten Platz unter den Affektionen des [[Stirnhirns]] ein. Es ist dabei für die Ausgestaltung der Symptomatik nicht ohne Bedeutung, ob vorwiegend die Stirnhirnkonvexität der das Gebiet des Orbitalhirns (d.h. des der Orbita aufliegenden basalen Stirnhirnanteils) betroffen ist (Kretschmer, Faust, Heygster, Leonhard). Offensichtlich ist das Stirnhirn überhaupt besonders empfindlich gegenüber Schädigungen jeglicher Art, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß die biologische Eigenschaft des [[Stirnhirns]], als entwicklungsgeschichtlich jüngster Anteil des Gehirns, diese erhöhte Vulnerabilität bedingt. So ist z.B. bei einer Gewalteinwirkung von vorne (Schußverletzung ,Autounfall usw.) etwa in der Hälfte der Fälle mit Hirnprellungen an der Stoßstelle, d.h. im Bereich des Stirnhirns, und nur in 5% an der Gegenstoßstelle ([[Occipiatlhirn]]) allein zu rechnen, während es bei Gewalteinwirkungen von hinten fast regelmäßig zu Hirnprellungen an der Gegenstoßstelle, als am [[Stirnhirn]], kommt (Spatz Zülch). Ferner fand Tönnis bei 155 [[Encephalographien]] verschiedener traumatischer Hirnschäden in 30% eine ausgeprägte Erweiterung der Vorderhörner, woraus nicht zu Unrecht geschlossen wird, daß jede diffuse [[Hirnatrophie]] am [[Stirnhirn]] beginnt und somit an den Voderhörnern der Seitenventrikel ihren frühesten und stärksten Ausdruck findet (Tönnis Faust)."<ref name="Klages121">W. Klages: Erkrankungen des Stirnhirns. In. Med. Klinik 55.1 (1960), 121.</ref>
Die Persönlichkeitsveränderungen bei Erkrankung des [[Stirnhirns]] richten sich nach Lokalisation und Schädigung ([[Trauma]], [[Tumor]], [[Hirnatrophie]]). Operative Eingriffe hingegen zeigen im Anschluss nicht immer psychische Auffälligkeiten:<ref name="Klages121">W. Klages: Erkrankungen des Stirnhirns. In. Med. Klinik 55.1 (1960), 121f.</ref>
# Zur Psychopathologie der Schädigung des [[Stirnhirns]] <br>  Störung des Antriebs: Die Patienten zeichnen sich durch einen sehr geringen Eigenantrieb aus, während die Fremdanregbarkeit erhalten bleibt. Sie sitzen unbeteiligt herum. Die Stimmungslage ist gleichgültig. Es besteht eine farblose Zufriedenheit und Unbekümmertheit. <br>  Störung der Vorstellungsfähigkeit: Die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, geht verloren. Damit verändert sich die Zeitdimension. Vergangenheit schmilzt zu etwas Unbedeutendes zusammen. Für die Zukunft gibt es keine Planungen. Die feste Verankerung im Zeitfluss besteht nicht mehr. Für sie gibt es sozusagen nur den Augenblick. Wahllos wird alles wahrgenommen, was zu einer auffallenden Ablenkbarkeit führt. Eine Konzentration auf etwas gibt es nicht. Das kombinatorische und produktive Denken erlahmt. Die Phantasie lässt nach. Kritik und Urteilsfähigkeit sind erheblich gestört. <br>  Einem Menschen mit Verletzung des [[Stirnhirns]] ist die Vorstellungsfunktion in einer ganz bestimmten Weise verändert. Damit kommt es zu Desintegrationen, die den Bezug und Kontakt zu Mitmenschen wie auch zu Raum und Zeit betreffen können. Alle auf einen geordneten Vorstellungsablauf bezogene Denkleistungen (Kombination, Abstraktion, Differenzierung, Phantasie, Besinnung, Wertung) werden erschwert oder unmöglich. Der Kranke ist von seiner Umwelt isoliert.
# Zur Psychopathologie des [[Orbitalhirns]] <br>  Störung der dynamischen Steuerung: Von diesem Versagen können alle seelischen Gebiete betroffen werden, Gedankenabläufe, Affekte, Rede- und Handlungsfolgen. Manchmal ist der Ablauf der dynamischen Steuerung stoßweise. Es kommt zu einem Abriss der Gedanken, zu hart herausfahrenden Urteilen und heftigen, rasch verpuffenden Handlungsansätzen. Gelegentlich besteht ein beständiger Rededrang. <br>  Verschiebung der Affentskalen: Es kommt zum Verlust bestimmter affektiver Resonanzen. Nicht selten begegnen wir einer euphorischen Verstimmung, die ganz im Gegensatz zu der Wesensänderung der allgemeinen Hirntraumatiker steht. <br>  Dissoziierung zwischen Schmerzwahrnahme und personeller Resonanz: Schmerzen sowie andere positive und negative Reize, die physiologisch zur Steuerung des Gesamtverhaltens notwendig sind, werden kaum registriert. Auch bei groben, offenen Verletzungen des [[Orbitalhirns]] werden selten stärkere Klagen geäußert. Selbst einer entstellenden Gesichtsverstümmelung, wie sie besonders bei Verletzungen des [[Orbitalhirns]] vorhanden sind, stehen die Kranken meist gleichgültig und ohne Störung des Selbstwertgefühls gegenüber. <br>  Shpärische Desintegratiion: Erleben und Handeln können nicht mehr mit der Gesamtsituation zu einem ganzheitlichen Akt integriert werden. Es kommt zu Entgleisungen des Taktgefühles und der ethischen Steuerung, die als etwas Spezifisches bei Verletzungen des [[Orbitalhirns]] auftreten und meist als erstes dem sozialen Umfeld auffallen. Diese Störung führt oft zu privaten und beruflichen Schwierigkeiten.
"Es ist verständlich, daß bei den hier geschilderten charakteristischen Persönlichkeitsveränderungen, denen wir bei der Schädigung anderer Hirnteile nicht begegnen, auch die Gefahr krimineller Entgleisung solcher Patienten gegeben ist. Hierauf hat bereits Kleist hingewiesen. Faust, Hoheisel und Lauber berichteten vor allen Dinden von sexuellen Delikten."<ref name="Klages122">W. Klages: Erkrankungen des Stirnhirns. In. Med. Klinik 55.1 (1960), 122.</ref>
Bei den differentialdiagnostischer Betrachtung findet man bei diesen Verletzungen ein Nachlassen des Antriebs und mitunter auch [[Psychosen]]. Es handelt sich dabei immer um eine diencephale Antriebsschwäche, die der physiologischen Ermüdung gleicht, die aber nicht die Eigenheiten eine Asponntaneität bei erhaltener Fremderregbarkeit hat wie die Antriebschwäche bei Geschädigten des [[Stirnhirns]]. Schwer ist manchmal die Bewertung von Symptomen der allgemeinen Enthemmung. Solche Symptome der Enthemmung im Charakter und ethischem Verhalten finden sich auch bei chronischen Alkoholikern mit einem Persönlichkeitsabbau ([[Depravation]]). <ref name="Klages122"></ref>
{{Zitat|Nehmen wir alles zusammen, so lieft bei Stirnhirnerkrankungen der Akzent immer auf den Persönlichkeitsveränderungen, nicht dagegen primär auf eigentlichen Inteligenzstörungen. Das haben auch die sehr sorgfältigen Beobachtungen bei 300 stirnhirnoperierten und dann wieder nach Hause in ihr soziales Milieu entlassenen Patienten von Partridge gezeigt.<ref name="Klages122"></ref>}}
"In vielen erinnert das Verhalten der Stirnhirnkranken an das von Kindern, bei denen ja noch eine gewisse Unreife der jüngsten Abschnitte des Stirnhirns anzunehmen ist (Spatz)."<ref name="Klages122">W. Klages: Erkrankungen des Stirnhirns. In. Med. Klinik 55.1 (1960), 122f.</ref>


== Anhang ==
== Anhang ==

Version vom 6. April 2021, 13:14 Uhr


Klinische Zeichen und psychische Veränderungen bei Hirntumoren (1965)

Stirnhirn Konvexität Stirnhirn Basis Hypophyse Zwischenhirn Zentralregion Temporallappen Partialregion Okzipitalregion Kleinhirn, Hirnstamm
Verdachtszeichen
Kopfschmerzen selten, spät häufiger Stirn und Augen selten spät Φ Φ früh (Nacken, Stirn)
Erbrechen selten selten bei Ventrikelblockade erst spät bei erhöhtem Blutdruck früh, häufig (nüchtern)
Augen(-hintergrund) Stauungspapille (StP) spät (einseitiger) Visusverfall Exophthalamus? Visus herabgesetzt, bitemproale Gesichtsfelddefekte selten StP früher, opt. Halluzination? homonyme Hemianopsie Quadranten-
anepsie
Heminanopsie, opt. Halluz. StP früh, Nystagmus Abduzensparese?
Bewusstsein (Antriebsmangel) (Enthemmung?) früh eingeschränkt Einschränkung stets Zeichen von erhöhtem Hirndruck! phasenhaft reduziert
diagnostische Hinweise
Krampfanfälle häufig (fokal?) Φ früh, fokal, Jackson, Gegenseite, Dämmerattacken, generalisiert? Aura (veget., olfakt.) sensible Jackson d. Gegenseite selten Streckkrämpfe (bedrohlich!)
Hirnnerven-
störung
Fazialis? Olfaktorius? Optikusatrophie? Optikus! Fazialis, Hapoglossus? Okulomot, Abduzens, Trigeminusreizung? Φ Φ Abduzens, Okulomot, Trochlearis, (Kornealreflex?)
Motorische Störungen Aphasie (motor.) Zwangs-, Nachgreifen Φ Parese, Plegie (Gegenseite) amnestische Aphasie (bei Tumor links) Φ Ataxie, Koorinat.-Störung (Herdseite)
Sensible Störungen Φ Φ Φ möglich Hemiphypästesie Lokalisationsstörung (Gegenseite) Φ Φ (Parästhesien?)
Psychische Störungen Antriebsmangel Enthemmung, Euphorie Stumpfheit, Schlafsucht, delirante Phasen Φ Merkschwäche + Korsakow, (paranoide Verstimmung) Φ Φ Benommenheit durch Hirndruck
Besonderheiten Konjugierte Kopf- Blickwendung "Witzelsucht" NNR-Insuffizien! Φ Olfakt. + opt. Aura b. Anfäll. Rindentaubheit? Agnosie, Alexie, Agraphie Seelenblindheit skandierende Sprache
klinische Untersuchung
Röntgen Kalkschatten? Basis verdickt? Sella erweitert Kalkstippchen Suprasellär? grobflächig-streifige Kalkschatten (Kortex, Mark, Plexus), Kalottendestruktionen? Pinealis verschoben Nahtsprengung (Kind), Wolkenschädel, Sella rarefiziert?
Arteriographie Anterioranfang ausgebucht, evtl. verschoben Tumoranfärbung? Turmoranfärbung, Anterior-Gesamtverschiebung zur Gegenseite (Fernsymptom) Φ Anteriorbogen bei Hydrozephalus werweitert
Enzelphelographie Füllungsdefekt, Seitenverschiebung (FS) Aussparung im 3. Ventrikel FS des Seitenventrikels FS des Tempforalhorns FS des Trigonum FS des Hirnterhorns nur Ventrikulographie! Hydrozephalus des 1.-3. Ventr. Aquädukt verschlossen?
EEG Herdbefund, Krampfwellen? beiderseits Zwischenwellen einseitiger Herdbefund (Delta-Wellen), halbseite Verlangsamung evtl. diffuse Verlangsamung
Krampfspitzen? Spitze-Wellenkomplex? Φ α-Verminderung

Verdachtszeiten und klinische Hinweise auf intrakaniellen Prozess[1]

Hirntumore treten gegenüber anderen Erkrankungen mit 1:10.000 eher selten auf. "Es ist vielleicht von Interesse, daß von 580 fortlaufend registrierten Tumoren (...) über 10% anfänglich als nervöse Erschöpfungszustände, als pseudoneurasthenische Bilder, als Psychopathien und sogar als Psychosen verkannt werden."[2]

"Der wichtigste Schritt zur Erkennung eines Hirntumors ist der Verdacht auf seine Existenz."[2]

"Erbrechen als Frühzeichen wird vor allem bei Kleinhirntumoren beobachtet. Intermittierend auftretendes Erbrechen ohne Übelkeitsgefühl oder sogar bei gutem Appetit ist besonders verdächtig auf eine zentrale Auslösung."[2]

"Die Stauungspapille ist in den allermeisten Fällen akutes Zeichen für eine intrakranielle Drucksteigerung. Der Nystagmus ist ebenfalls in der überwiegenden Zahl der Fälle bedingt durch einen raumbeengenden Prozeß. Treten Krampfanfälle im mittleren Lebensalter erstmalig auf, so sind sie fast immer durch eine Neubildung des Hirnes bedingt. ... Jeder Patient mit epileptischen Anfällen, einerlei ob lokalisierte, halbseitige oder generalisierte Krampfanfälle auftreten, muß unbedingt so rasch als möglich durch das EEG, evtl. auch durch Luftenzephalogramm und Arteriographie genauestens untersucht werden, um einen Hirntumor noch rechtzeitig erkennen zu können. Ganz besonders gefährlich sind Streckkrämpfe, meiest ein erster Hinweis für einen raumbeengenden Prozeß des Kleinhirns oder eine Abflußbehinderung des Hirnwassers. Hier besteht immer die Gefahr einer Lähmung im Bereich des Atemzentrums oder der Kreislaufzentren. Kommt es neben Krämpfen noch zu füchtigen oder manifesten Störungen der Motorik, evtl. auf einer Seite des Körpers, dann ist die Ursache fast immer ein Tumor und nur in sehr seltenen Fällen ein Gefäßverschluß oder eine Zerebralsklerose. Motorische unnd sensible Störungen treten bei Großhirntumoren immer auf der gegenüberliegenden Seite auf; bei Kleinhirnprozessen kommt es zu gleichseitigen Störungen; hier stehen jedoch im Vordergrund Ataxie, Schwindel, Kooriinationsstörungen, zusammen mit Pyramidenbahnstörungen, evtl. Schluck- und Stimmlähmungen."[2]

"Wichtig sind weiter Bewußtseins- und psychische Störungen, da gerade sie vom lange behandelnden Hausarzt eher erkannt und richtiger beurteilt werden können als vom klinischen Arzt, der den Patienten aus früherer Zeit nicht kennt. Nicht die schweren organischen Einschränkungen des Bewußtseins mit Benommenheit oder Schlafsucht, nicht die groben Auffälligkeiten, die den Verdacht auf eine Geisteskrankheit lenken, sind entscheidend für die Frühdiagnose eines Hirntumors, gerade die langsamen Veränderungen des früheren Patiententyps, also ein Nachlassen der Leistungsfähigkeit, ein erhöhtes Schlafbedürfnis bei sonst aktiven Patienten, eine gleichgültige Nachlässigkeit bei sonst akkuraten und eher pedantischen Patienten oder auch eine karikaturhafte Verzerrung der früheren Einstellung müssen den Verdacht auf das Vorliegen eines intrakraniellen raumbeschränkenden Prozesses erwecken. ... Vor allem Tumoren im Stirnhirn, in der Nähe des Balkens und der Hypophysenregion zeigen frühzeitig psychische Veränderungen (...)."[3]

"Temprament- und Charakteranomalien sind dann nicht Folge einer endogenen Störung, sondern entstehen durch den Druck des wachsenden Tumors auf das Gesamtgehirn. Die mit der Hirnorganischen Schädigung verbundene Entgleisung der innerseelischen Harmonie ähnelt den symptomatischen Psychosen bei bestimmten körperlichen Erkrankungen. Walter-Buel (...) fand bei 600 Hirntumoren vor der Behandlungseinleitung in 70% psychoorganische Störungen. Corboz (...) stellte bei 52 Kindern der gleichen Versuchsreihe sogar 92% 'psychische Veränderungen irgendwelcher Art' fest."[3]

"Fast immer beginnen intrakranielle Prozesse uncharakteristisch ('Tumorpsyche'): Verlangsamte Auffassung, gestörte Merkfähigkeit und herabgesetze Aufmerksamkeit sind gekoppelt mit depressiver Verstimmung bei gutem Kontakt, Unstetheit im Handeln und Reagieren, Einschränkung der Bewußtseinsklarheit und gelegentlich mit Ideenflucht und Konfabulationen. Fortgeschrittene Stadien des zunehmenden intrakraniellen Druckes zeigen mehr apatisch-lethargische Zustände oder erregte und delirante Symptome."[3]

"Prozesse im Bereich des Stirnhirns zeigen eher einen Verlust des Eigenantriebs bei erhaltener Fremdanregbarkeit. Dazu kommenn häufig eine Vergröberung oder auch eine Abflachung der Gesamtpersönlichkeit. Die Aspontaneität, also die herabgestzte Initiative und Willensleitung, ist häufiger bei Schädigung der Stirnhirnkonvexität; bei Prozessenn im Bereich der Stirnhirnbasis (Orbitalhirn) herrschen Triebenthemmung, Asozialität, Verhaltens-Diskkontinuität, Ausfall der selbstkritischen Einstellung und der affektiven Bindung vor. Selbst Manie-ähnliche Zustände sind (z.B. bei Olfaktorius-, Keilbein- und suprasellären Meningiomen) bekannt, deshalb fanden sich bei den oben genannten postmortalen Untersuchungen auch am häufigsten Stirnhirntumoren."[3]

"Bei Ausdehnung derartiger medio-basaler Prozesse bis zum Zwischenhirn herrschen neben Auffassungsschwierigkeiten und mnestischen Lücken sehr häufig Apathie, Schlafsucht, oder narkoleptische Zustände vor; im Wachzustand impnieren eine leere Euphorie, eine Perseverationstendenz und eine fehlende Zuwendung. Auch eine Senkung des gesamten energetischen Niveaus sowie eine Hemmung der Triebe und Affekte sind meist nicht zu verkennen. ... Bei Ausdenung des Prozesses bis zum Stammhirn kommt es neben einer körperlichen Akinese zu einer Denkverlangsammung (psychischer Rigor), zu psycho-reaktivem Antriebsmangel und vegetativen Begleiterscheinungen, wie sei vor allem bei (postenzephalitischen) Parkinson-Patienten bekannt sind."[4]

"Tumoren in der Nähe der Zentralregion werden noch am ehesten erkannt, da mororische oder sensible Defizit-Erscheinungen auf der Gegenseite, früh einsetzende Krampfanfälle - sie können fokal, Jackson-artig oder generalisiert sein - und agnostische, apraktische und aphasische (auf der dominanten Hemisphäre) Störungen eindeutig auf den Neubildungsprozeß hinweisen. Schwerer ist die Erkennung okzipital gelegener Hirntumoren (sie sind im ganzen gesehen selten), sie geben oft Anlaß zu Rinden- und Seelenblindheit."[4]

"Für die Diagnostik von Schläfenlappentumoren und den gerade hier häufigen degenerativ-zystischen Prozessen (z.B. nach Geburtsschaden) spielen für die Praxis die Erkennung und richtige Eingliederung der kurzdauernden Aufmerksamkeitsstörungen (Dämmerattacken), fälschlich Absencen genannt) ohne Hirnstützen eine Rolle. Sie sind häufig mit Unruhe, Geruchsaura und vegetativen Mißempfindungen verbunden. Kommt es zu Aphasie, so ist hier das Wort-Verständnis gestört (nicht wie bei Tumoren der Sthirnhirnkonvexität die Sprechmotirik!), eine sofortige kliniische Klärung ist wie bei allen Anfällen ratsam und dringlich."[4]

"Im ganze gesehen muß man mit der Zuordnung bestimmter psychischer Veränderungen zu einem bestimmten Hirngebiet vorsichtig sein."[4]

Anhang

Anmerkungen


Einzelnachweise

  1. W. Umbach: Klinische Zeichen und psychische Veränderungen bei Hirntumoren. In: Med. Klinik 60 (1965), 381.
  2. a b c d W. Umbach: Klinische Zeichen und psychische Veränderungen bei Hirntumoren. In: Med. Klinik 60 (1965), 380.
  3. a b c d W. Umbach: Klinische Zeichen und psychische Veränderungen bei Hirntumoren. In: Med. Klinik 60 (1965), 382.
  4. a b c d W. Umbach: Klinische Zeichen und psychische Veränderungen bei Hirntumoren. In: Med. Klinik 60 (1965), 383.