Wahrnehmung

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Allgemeines

Wahrnehmung ist die bewusste Verarbeitung von Reizen. Diese Verarbeitung alle Sinneswahrnehmungen erfolgt ausschließlich im Gehirn. Dort werden die einzelnen Informationen zur Wahrnehmung bewusst gemacht.

In Abgrenzung dazu stehen Transduktion und die vom Rückenmark ausgehenden spinale Refelexe. Sie sind unbewusste Informationen und zählen damit nicht zu den Wahrnehmungen.

Siehe: Schmerzen und Wahrnehmungskette

Aus der Fülle der von den Sinnen kommenden Informationen werden vom Integrator als dem größten Neuronensystem jene Aktivitäsmuster herausgegriffen, die ihn interessieren. Dies ist keine Analyseleistung, „sondern das Gegenteil, eine Integration, bewerkstelligt durch Kombinatorneurone im Wahrnehmungssystem des Integrators“.[1]

„Diese Kombinatorneurone des Hautwahrnehmungssystems liegen zwar im gleichen Areal wie die Detektorneurone, aber in einer anderen Zellschicht (...). Das Abbild der Haut sieht allerdings verzerrt aus (...), weil die Rezeptordichte nicht über gleich, sondern vor allem im Mund- und Handbereich groß ist. Entsprechend werden diese funktionell wichtigen Körperteile auch in den Detektoren und Kombinatoren hervorgehoben. Der Mensch ist ein Mund-Hand-, bzw. ein Sprech-Greif-Wesen.
Selektion. Der Umweg über die Analyse und den erneuten Zusammenbau im Integrator hat den Vorteil, das nicht die ganze Außenwelt übernommen werden muss, sondern nur der wichtigste Teil davon. Dies ist ein Selektionsprinzip im Dienste der Ökonomie, das verhindern hilft, das Gedächtnisvermögen der Integratorneurone mit unbedeutenden Informationen zu überlasten.
Erkennen. Die im Wahrnehmungssystem zusammengebauten bioelektrischen Muster aus der Außenwelt werden mit den Gedächntisinhalten der Kombinatorneurone im Wahrnehmungssystem verglichen. Finden sich gleichartige, schon früher einmal eingegangene Muster, wie z.B. Kitzeln, werden die eingegangenen Muster mit den engrammierten ergänzt ins Globalsystem des Integrators weitergegeben, wodurch das Globalsystem diese Muster als bereits bekannte Muster wiedererkennt und erlebt."[2]

Sinne des Menschen

Über die Sinne nimmt der Mensch seine Umwelt wahr. Beim Sehen, Hören, Riechen und Schmecken sind die Sinnesorgane durch Hirnnerven direkt mit dem Gehirn verbunden. Evolutionsgeschichtlich sind sie die jüngsten Sinnesorgane.
Der Tastsinn ist als einziger Sinn über Nervenbahnen mit dem Rückenmark verbunden und splittet sich dort, wobei ein Weg zum Gehirn führt. Evolutionsgeschichtlich dürften die Anfänge des Tastsinns 300 Mio. oder gar 500 Mio. Jahre zurückliegen.

"Sensorische Systeme bestehen aus den folgenden anatomischen Bausteinen und Funktionen:
Sinnesorgan (Sinneszellen) - Reiz - Nervenfaser - Nervenzellen (Ganglienzellen) - Rückenmark - Gehirn."[3]

Ablauf der Wahrnehmung

"Alle Reize führen zu gleichartigen Aktionspotentialen, z.B. Licht ebenso wie Schall. Welchen Sinneseindruck diese Aktionspotentiale auslösen, hängt davon ab, in welchen Hirnregionen sie eintreffen. Würde man etwa den Sehnerv operativ in das Hörzentrum leiten, würden Lichteinwirkungen als akustische Signale empfunden.[Anm. 1][4]

Die Rezeptoren unterscheiden sich je nach Sinnesorgan. Ab der 1. Nervenzelle erfolgt die Verarbeitung des Reizes in vergleichbarer Weise:[4]

  1. Überschreitet der Reiz das Aktionspotential der Rezeptorzelle, gibt diese einen Impuls an die angeschlossene Nervenzelle weiter.
  2. Weiterleitung der Information
    1. Alle Reize, die nicht zum Kopf gehören, werden zum Rückenmark geleitet und von dort aus zum Kopf.
    2. Alle Reize, die die Sinnesorgane des Kopfes angesprochen haben, werden direkt zum Gehirn weitergeleitet.
  3. Die Informationen gelangen in definierte Hirnareale, den Thalamus, die Großhirnrinde und die Assoziationsfelder.

Wahrnehmungskette der Sinne

Die Wahrnehmungskette der Sinne beschreibt den Ablauf der Wahrnehmung. Es ist immer der gleiche Ablauf über Reiz - Transduktion - Verarbeitung - Wahrnehmung - Wiedererkennung und Handeln. Somit hat jeder Sinn seine eigene Wahrnehmungskette:


Sonstiges

Unser Gehirn sieht nicht das, was die Netzhaut unseres Auges sieht, sondern es verändert die von der Netzhaut kommenden Informationen in ein Bild, wie wir es erwarten. Dabei werden Informationen weggelassen, hinzugefügt oder unterschiedlich interpretiert. Dies kommt bei optischen Täuschungen und Kippbildern deutlich zum Ausdruck. Unser Gehirn arbeitet so, weil es bestimmte Bilder erwartet oder bei der Auswertung bestimmte Fehler macht. "Die Erwartungen des Gehirns sind in die anatomische und funktionelle Organisation der Sehbahn eingelassen; zum Teil sind sie der Erfahrung zu verdanken, weitgehend aber den angeborenen neuronalen Verdrahtungen des Sehsystems."[5]

"Objekte und Menschen wahrzunehmen und zu erkennen, scheint überhaupt keine Mühe zu machen. Doch wie die Informatiker bitter erfahren mussten, als sie intelligente Maschinen konstruierten, setzen diese Wahrnehmungsunterscheidungen eine Rechenkapazität voraus, zu der kein Computer auch nur annähernd in der Lage ist. Schon das bloße Erkennen eines Menschen ist eine erstaunliche Verbarbeitungsleistung. Alle unsere Wahrnehmungen - Sehen, Hören, Riechen und Tasten - sind analytische Triumphe."[6]

Wahrnehmungsentzug

"Unser Gehirn braucht nicht nur Wahrnehmungsinput, sondern auch Wahrnehmungsveränderung. Mangel an Veränderung kann nicht nur zu Konzentrations- und Aufmerksamkeitslücken, sondern auch Wahrnehmungsstörungen hervorrufen. Egal, ob heilige Männer freiwillig die Dunkelheit und Einsamkeit in Höhlen suchten oder ob sie Gefangenen in lichtlosen Kerkern aufgezwungen wurden - der Entzug des normalen visuellen Inputs kann das innere Auge aktivieren und so Träume, lebhafte Vorstellungsbilder oder Halluzinationen produzieren. Es gibt sogar einen Fachbegriff für die Sequenzen bunter und vielfältiger Halluzinationen, die uns trösten oder quälen, wenn wir in Isolation und Dunkelheit gehalten werden: 'Gefangenenkino' (Prisoner´s Cinema)."[7]

In den 1950-er Jahren wurden 14 Studenten für mehrere Tage in schalldichten Kabinen eingeschlossen, von kurzen pausen zum Essen und Toilettengang abgesehen. Sie hatten Milchglasbrillen zu tragen, mit denen sie nur hell und dunkel sahen. Zunächst schliefen alle Versuchsteilnehmer und langweilten sich nach dem Erwachen. Sie sehnten sich nach Reizen, die sie nicht erhielten. "Dann begann die Phase der Autostimulation unterschiedlichster Art: mentale Spiele, Zählen, Phantasien und früher oder später, visuelle Halluzinationen - gewöhnlich eine 'Progression' der Halluzinationen vom Einfachen zum Komplexen."[8] "Während diese Bilder zunächst wirkten, als seien sie auf einen flache Leinwand projiziert worden, wurden sie nach einiger Zeit für einige der Versuchsteilnehmer 'täuschend dreidimensional', wobei Teile einer Szene manchmal auf dem Kopf standen oder von einer Seite zur anderen schwankten. ... Gewöhnlich verschwanden die Halluzinationen, wenn die Versuchsteilnehmer aufgefordert wurden, schwierige Aufgaben zu lösen, etwa dreistellige Zahlen zu multiplizieren, nicht aber, wenn sie nur gymnastische Übungen machten der mit den Versuchsleitern sprachen."[9]

Bei einer späteren Studie hatten die Versuchspersonen 96 Stunden lang schwarze Binden zu tragen, die ihnen ermöglichte, die Augen zu öffnen, aber nur Finsternis zu sehen. 10 der 13 Teilnehmer hatten bereits in den ersten Stunden Halluzinationen, aber alle am 2. Tag. Dabei war es unerheblich, ob sie die Augen geöffnet oder geschlossen hatten. Die Halluzinationen waren plötzlich da, blieben Sekunden oder Minuten, und verschwanden dann ebenso plötzlich wieder. Bei einem Teilnehmer waren diese Halluzinationen am 3. Tag fast permanent. Die Teilnehmer berichteten von einfachen Halluzinationen (Lichtblitze, Phosgenen, geometrischen Mustern) bis zu komplexen Figuren (Gesichter, Tiere, Gebäude, Landschaften). Mehrere Probanden berichteten von einer großen Strahlkraft und Farbigkeit ihrer Halluzinationen. Mehrere Teilnehmern wandelten sich die Halluzinationen, so z.B. auf einem Schmetterling wurde ein Sonnenuntergang, dann ein Otter und schließlich eine Blume. Keiner der Probanden hatte willkürliche Kontrolle über seine Halluzinatinen. "Keine Halluziniationen zeigten sich, wenn die Teilnehmer durch Sinnestätigkeiten anderer Modalitäten in Anspruch genommen wurden - wenn sie etwa dem Fernseher oder dem Radio lauschten, sprachen oder auch versuchten, Blindenschrift zu lernen."Referenzfehler: Für ein <ref>-Tag fehlt ein schließendes </ref>-Tag.

Bei einer anderen Studie, mit fMRT durchgeführt, hatten die Versuchspersonen die Augen 22 Tage lang verbunden und waren mehrfach im fMRT, wo sie genau anzugeben hatten, wann eine Halluzination kam und wann sie verschwand. "Der Scanner zeigte in exakter Übereinstimmung mit ihren Halluzinationen Aktivierungen ihres Sehsystems sowohl im okzipitalen wie auch im inferotemproalen Kortex. (Als sie hingegen aufgefordert wurde, mit Hilfe ihres visuellen Vorstellungsvermögens die Halluzinationen aus dem Gedächtnis abzurufen oder zu vergegenwärtigen, zeigten sich zusätzlich erhebliche Aktivierungen in den exekutiven Arealen des Gehirns, das heißt im präfrontalen Kortex, einer Region, die relativ inaktiv war, als die Teilnehmerin nur halluzinierte.) Hier zeigt sich also auf einer physiologischen Ebene eindeutig, dass sich die visuelle Vorstellung grundsätzlich von der visuellen Halluzination unterscheidet."[10]

Wahrnehmung bei Hirntoten

Ob beim Sehen, Hören, Tasten (Fühlen), Riechen oder Schmecken, die dabei von den Sinnesorganen gewonnenen Informationen werden immer an das Gehirn zur Filterung, Bewertung und Auswertung weitergeleitet.

Ein funktionierendes Gehirn ist die Grundlage aller Sinneswahrnehmungen. Ist das Gehirn im tiefen Koma, sind Sinneswahrnehmungen unöglich.[Anm. 2] Ist das Gehirn abgestorben - so beim Hirntoten - ist die Grundlage jeglicher Wahrnehmung erloschen. Hirntote können daher nie wieder etwas sehen, hören, spüren, riechen oder schmecken. Nie wieder!

Bei Hirntoten ist die Wahrnehmung erloschen, d.h. nichts kann der Hirntote wahrnehmen, weder bewusst, noch im Unterbewusstsein, denn das Unterbewusstsein benötigt hierfür wie auch das Bewusstsein ein funktionierendes Gehirn. Bei Hirntoten ist daher keine Wahrnehmung möglich, weder eine bewusste, noch ein unbewusste.

Da beim Hirntoten das Gehirn als biologische Grundlage die Wahrnehmung abgestorben ist, ist dieser Zustand der erloschenen Wahrnehmung dauerhaft (irreversibel).

Hirntote im Vergleich mit Patienten, bei denen nach Patientenverfügung das Therapieende gewünscht wird.

Fähigkeit Patientenverfügung Hirntod
Kommunikation sich mitteilen können unmöglich unmöglich
Können gehen, sprechen, singen, musizieren, balancieren unmöglich unmöglich
Wahrnehmung sehen, hören, riechen, schmecken, tasten möglich unmöglich
Bewusstsein denken, planen, erfinden, kreativ etwas erschaffen möglich unmöglich
Erinnerung was man erlebt hat (DuL) möglich unmöglich
Wissen was wir gelernt haben (DuL) möglich unmöglich
Gefühle Liebe, Hass, Vertrauen, Angst, Hoffnung, Sorge möglich unmöglich
Eigenatmung atmet selbstständig, wenn auch schwer möglich unmöglich
Hirnstammreflexe Licht-, Lidschluss-, ... Atem-Reflex vorhanden nicht vorhanden
Homöostase Körpertemperatur, Wasserhaushalt gestört sehr gestört
Herzschlag vorhanden vorhanden
Verbesserung des Zustandes? sehr unwahrscheinlich völlig unmöglich
gewünscht Mord?
Das "unmöglich" ist beim Hirntod deswegen dauerhaft, weil die Gehirnzellen im Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm seit Eintritt des Hirntodes so schwer geschädigt sind, dass sie nicht nur nie wieder funktionieren werden (irreversibel). Sie befinden sich in einem so weit fortgeschritten Sterbeprozess, dass dieser unaufhaltsamen geworden ist und der nach Tagen des Hirntodes mit der Auflösung des Gehirns (Autolyse) endet.

Anhang

Anmerkungen

  1. Ein kräftiges Reiben der geschlossenen Augen kann zu wahrgenommenen Lichtblitzen führen. Mechanische Energie wird demnach als optisches Signal empfunden.
  2. Wenn das Gehirn aus dem tiefen Koma wieder herauskommt, sind Sinneswahrnehmungen wieder möglich. Dies zeigt sich z.B. anhand des Filmrisses bei einem Vollrausch.

Einzelnachweise

  1. Gino Gschwend: Neurophysiologische Grundlagen der Hirnleistungsstörungen. Basel 1998, 16.
  2. Gino Gschwend: Neurophysiologische Grundlagen der Hirnleistungsstörungen. Basel 1998, 17.
  3. Hermann Bünte, Klaus Bünte: Das Spektrum der Medizin. Illustriertes Handbuch von den Grundlagen bis zur Klinik. Stuttgart 2004, 1530.
  4. a b Hermann Bünte, Klaus Bünte: Das Spektrum der Medizin. Illustriertes Handbuch von den Grundlagen bis zur Klinik. Stuttgart 2004, 1482.
  5. Eric R. Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. München 2006, 323.
  6. Eric R. Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. München 2006, 323f.
  7. Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Reinbeck 2013, 51.
  8. Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Reinbeck 2013, 52.
  9. Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Reinbeck 2013, 53.
  10. Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Reinbeck 2013, 58.