Schriften
"Auch die Toten sind nicht mehr sterbenskrank" (01.12.2007)
Am 01.12.2007 veröffentlichte Martin Klein den Artikel: "'Auch die Toten sind nicht mehr sterbenskrank' * Die Auseinandersetzung um den Hirntod - eine Bilanz".[1] Darin heißt es:
Bis heute ist dieser Streit nicht verstummt, woran in Deutschland auch die Verabschiedung eines Transplantationsgesetzes am 1.12. 1997 nichts geändert hat. Dies belegen weiterhin in großer Zahl publizierte kritische als auch befürwortende Stellungnahmen.
|
Für die Medizin ist das Thema jedoch abgeschlossen, siehe: gemeinsame Stellungnahmen
Nicht das neue Kriterium zur Feststellung des Todes an sich oder als Vorbedingung für den Abbruch der nunmehr als nutzlos erachteten Behandlung erregte die Gemüter, sondern die jetzt mögliche (von Anfang an aber beabsichtigte) Entnahme von "lebensfrischen" Organen zum Zweck der Transplantation.
|
Die TX-medizin glaubte in den 1960-er Jahre selbst nicht daran, dass das Hirntodkonzept allgemein angenommen werden würde. Es ging primär um das Therapieende. Siehe: Bruno Haid (1957) und Ad-Hoc-Kommission (1968)
Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, daß ein reiner Behandlungsabbruch nicht einmal der Feststellung des Todes, sondern nur der Beurteilung einer sinnlos gewordenen Behandlung bedarf.
|
Es bedarf in der Medizin auch den Schnitt des Todes, weil es Ärzte und Hinterbliebene gibt, die bei Hirntod auf Weiterbehandlung pochen. Siehe: Behandlungskosten, Alan Shewmon
Einer überraschten, teilweise entsetzten Öffentlichkeit wurde im Herbst 1992 klar, was der Hirntod faktisch bedeutete, als Ärzte beabsichtigten, die Schwangerschaft einer hirntoten Frau fortzuführen unter den Bedingungen der Intensivbehandlung, was wegen eines Spontanabortes nicht gelang.
|
Siehe: schwangere Hirntote
Hirntote können nicht nur Organe spenden, sondern auch anderen Zwecken dienen: Düstere Visionen, wie die mögliche Durchführung chirurgischer Eingriffe an Hirntoten zu reinen Trainingszwecken oder ihre Vorratshaltung zwecks längerfristiger Gewinnung von Blutprodukten oder Erprobung von Giften wurden heraufbeschworen.
|
Solche Phantasien erkannte Hans Jonas bereits 1987 als falsch an.
Auch Jenas, der schon erwähnte erste prominente Kritiker Gehimbezogener Todeskriterien, mobilisierte nicht nur durch Begriffe wie Vivisektion, sondern auch durch die Formulierung von der "pragmatischen" Umdefmierung des Todes menschliche Urängste, nicht nur lebendig begraben, sondern vorher sogar noch der eigenen Organe beraubt zu werden.
|
Siehe: Hans Jonas
Das "Aufhören aller Funktionen des gesamten Gehirns" ist ganz einfach etwas, das unmöglich zu bestimmen ist. Keine verfügbare Technik oder Kombination von Techniken kann jemals hoffen, "alle Funktionen des gesamten Gehirns" beurteilen zu können.[Anm. 1]
|
Siehe: Nichtdurchblutung des Gehirns
Wie aber kann es sinnvoll sein, den Nachweis des Ausfalls aller Hirnfunktionen zu fordern, wenn die Erfüllung dieser Forderung nicht möglich ist?
|
Die vom wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer formulierten Richtlinien weisen keinesfalls den behaupteten irreversiblen Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen nach.
|
Die Dokumentation des zerebralen Zirkulationsstillstandes durch die Arteriographie gilt als goldener Standard der Hirntoddiagnostik. Selbst diese ist aber nicht ausreichend, um den Ausfall der Funktionen des gesamten Gehirns nachzuweisen. Erhaltene Sekretionsleistungen der Hirnanhangsdrüse können auch nach angiographisch verifiziertem Zirkulationsstillstand vorkommen, was nicht nur durch den Nachweis der entsprechenden Hormone dokumentiert wurde, sondern auch durch das Ansprechen des Hypophysenvorderlappens auf den TRH-Stimulationstest. Nach Injektion von Insulin zeigte ein hirntoter Patient einen Anstieg des Wachstumshormons im Serum, eine Stoffwechselleistung, die die zumindest partielle Intaktheit des Hypothalamus voraussetzt.[2]
|
In § 3 TPG ist der Hirntod definiert als "der endgültige, nicht behebbare Ausfall der
Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand
der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen". Es geht in dieser Definition nicht um jede einzelne Hirnfunktion, sondern um das Gehirn als neuronales System insgesamt.
C. Pallis ist sicherlich kein fehlgeleiteter, oberflächlich argumentierender Außenseiter, sondern einer der wohl renommiertesten Kenner der Materie weltweit und Ideengeber des Hirnstammtodkonzeptes (wonach jemand als tot gilt, dessen Hirnstammfunktionen [s. u.] unwiederbringlich ausgefallen sind).
|
Hirnstammtod gilt u.a. in Polen und Indien. In D/A/CH gilt der Geasmthirntod.
Kaum bestreitbar ist, daß bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein der Tod anhand der sogenannten sicheren Todeszeichen, vor allem der Leichenstarre und der beginnenden Fäulnis, beurkundet wurde. Dabei spielte es keine Rolle, ob das Sterben primär durch eine Schädigung des Gehirns, des Herzens, oder der Lunge eingeleitet wurde, da aufgrund mangelnder effektiver Behandlungsmöglichkeiten das Ergebnis - der Tod - stets identisch war.
|
Auf der Intensivstation wird noch heute beim normalen Sterben die Behandlung nicht bis zum Eintritt der Totenstarre, Totenflecken oder gar der Fäulnis fortgesetzt, sondern beim Herzstillstand abgebrochen. Der Tote bleibt dann zwar noch bis zur Feststellung der sicheren Todeszeichen noch auf der Intensivstation, wird aber nicht mehr weiterbehandelt.
Lange vorher hatte der Philosoph Maimonides (1135-1204) die Überzeugung geäußert, daß auch nach dem Tode noch Bewegungen des Körpers möglich seien: Er vertrat die Meinung, daß spasmodische Krämpfe der Muskeln nach dem Tod vorkommen könnten. Dies sei jedoch kein Beweis für das Vorhandensein von Leben, da ihnen die zentrale Steuerung fehle.[3] Er hat also ein heute sehr modernes Konzept vertreten und man kann die Hypothese aufstellen, daß er zumindest ein Vorläufer der Idee vom Hirntod war.
|
Aus ihren Beobachtungen, etwa den Lippenbewegungen "abgehauener Menschenköpfe" folgerte Soemmering, "daß diese Todesart deswegen höchst schrecklich und grausam seyn müsse, weil der vom Rumpf getrennte Kopf des Hingerichteten, in dem alles Bewußtseyn, die wahre Personalität, das eigentliche Ich noch eine Zeitlang lebendig bleibt, die dem Halse zugefügten grausamen Schmerzen noch nachfühlt, noch empfindet."[4]
|
Ende des 19. Jahrhunderts, als die moderne Neurochirurgie noch in ihren Kinderschuhen steckte, beobachteten Forscher wie Victor Horsley, Harvey Cushing und Dyce Duckworth, daß Ursache des Todes nach primärer Hirnschädigung nicht etwa, wie bis dahin geglaubt, ein Herz- und Kreislaufstillstand war, sondern das Versagen der Atmung, welches dem Herzstillstand in diesen Fällen vorausging.
|
Dies publizierte bereits im Jahr 1800 Xavier Bichat
Die ersten, die dieses Syndrom systematisch beschrieben, waren 1959 französische Forscher, vor allem Mollaret und Goulon. Sie hatten den Krankheitsverlauf bei 23 ihrer Patienten, die schwere Hirnschäden überlebt, aber nicht das Bewußtsein wiedererlangt hatten, beobachtet. Ursache waren schwere primäre (Schädel-Hirn-Trauma, Hirnblutung, Hirninfarkt) oder sekundäre (beispielsweise Zustand nach Herzstillstand und verzögerter Wiederbelebung) zerebrale Läsionen. Ihre Patienten waren tief komatös, die Pupillen verengten sich nicht auf Lichteinfall, die Kornealreflexe waren nicht auslösbar und spontane Atembewegungen waren nicht zu erkennen, wenn die Beatmungsmaschine kurzzeitig ausgeschaltet wurde. Sie waren poikilotherm (ihre Hauttemperatur paßte sich der Umgebungstemperatur an), was beim Gesunden, der über eine intakte, hirnstammgesteuerte Temperaturregulation verfügt, bekanntlich nicht der Fall ist. Sie erlitten einen sofortigen Kreislaufzusammenbruch, sofern man die kontinuierliche Zufuhr des gefäßverengenden und damit blutdruckstabilisierenden Hormons Noradrenalin unterbrach.27 Ihr EEG war isoelektrisch (sogenanntes Null-Linien-EEG). Die Autoren gaben diesem neuen Syndrom den Namen Coma dépassé, beschrieben also einen Zustand, der "das Koma überschritten" hatte. Sie lieferten damit ein noch heute gültiges Meisterwerk an klinischer Beobachtung und Beschreibung aller wichtigen Aspekte (Koma, Apnoe, Himstammareflexie) des Himtodes.
|
In den folgenden Jahren konnte man mit Hilfe der zerebralen Angiographie die Pathophysiologie dieses Coma dépassé bildhaft nachvollziehen: Eine wie auch immer geartete schwere Hirnschädigung führte zu einer Druckerhöhung im Bereich der knöchernen Schädelkapsel. Überstieg dieser Himdruck den systemischen Blutdruck, so war die Blutzufuhr zum Gehirn gestoppt, was zum isolierten Absterben des Organs führte, erkenntlich an der fehlenden Füllung der Hirngefäße im Angiogramm. Der Begriff Coma dépassé wurde in Frankreich bis 1988 offiziell gebraucht, dann aber wegen seiner angeblichen Zweideutigkeit abgeschafft. Es war nicht das letzte Mal, daß als mißverständlich interpretierte Formulierungen im Zusammenhang mit dem Hirntod für Unruhe sorgten.
|
Während die Sorge um die Belastung, die die Patienten selber empfinden könnten, eher skurril anmutet bei Annahme einer vollständigen und irreversiblen Schädigung des Gehirns, offenbarten die Verfasser mit der zweiten Forderung ihre wahren Motive. Forschungsprojekte bezüglich des Hirntodes, wie zum Beispiel die vom "National Institute of Neurological and Communicative Disorders and Stroke" unterstützte Studie an 603 komatösen Patienten, die keine Eigenatmung mehr hatten, an der sich in den USA acht Zentren beteiligten, wurden hauptsächlich deshalb durchgeführt, um Verzögerungen bei der Diagnosestellung des Todes zu vermeiden und Transplantationen zu ermöglichen, wie die einleitenden Sätze von Walker belegen:
"THE STATE [Majuskeln i. O.] generally known as cerebral death, although described more than two decades ago, came to die attention of physicians and die public when transplant surgery gained popularity. The need for viabte organs led surgeons to seek patients with intracranial pathological findings such äs head injuries that resulted in a dead brain. However, if the pronoun-cement of death were delayed until the heart stopped bcating, the organs undcnvent so much dete-rioration that a successful transplant was jeopardized. Hence, a defmition of human death that considered the lack of cerebral function äs important äs the cessation of cardiac activity was recognized."[5]
|
Andererseits ist gegenüber empörten Protesten von Kritikern mit Birnbacher[6] festzuhalten, daß die sachliche Richtigkeit einer Feststellung nicht durch mögliche Nutzanwendungen beeinträchtigt wird.
|
Wer nach den Vorstellungen der Ad Hoc-Komission unter Berücksichtigung bestimmter Vorbedingungen (zum Beispiel Ausschluß einer Intoxikation) nach einer schweren Hirnschädigung komatös war (unreceplivity and unresponsitivity), bei der Untersuchung keine (Hirnstamm-) Reflexe (no reflexes; später wurde nur das Fehlen der sogenannten Hirnstammreflexe gefordert) und keine Spontanatmung (no movements or breathing)33 mehr hatte, sowie bei der Nachuntersuchung nach 24, später 12 Stunden identische Befunde aufwies, war (hirn)tot. Die Dokumentation eines isoelektrischen EEG wurde empfohlen, nicht zwingend vorgeschrieben.
|
Die Harvard-Wissenschaftler unternahmen somit nicht den Versuch, den Tod (neu) zu definieren, sondern schlugen einfach ein neues Kriterium für seine Feststellung vor, nämlich das zunächst in der Überschrift so genannte irreversible Koma, welches dann im Artikel selbst ohne weitere Umschweife zum Hirntod mutierte.
|
Irreversibles Koma ist physiologisch wie auch funktionell ein anderer Zustand als Hirntod.
Für den wissenschaftlichen Beirat ist - ebenso wie für die genannten Autoren - der Nachweis von Hirnaktivität identisch mit der Zuschreibung des Attributs "Leben".
|
EEG-Aktivität weist nur Aktivität der Großhirnrinde nach, nicht des {{Hirnstamms]].
Es ist keine Lösung, wenn von den Befürwortern des Ganzhirntodes in Anbetracht dieser Befunde vor übereilten Schlußfolgerungen gewarnt wird und methodische Schwierigkeiten der Hormonbestimmung diskutiert werden.[9] Prinzipiell brauchen die Kritiker eines neuen Kriteriums zur Feststellung des Todes lediglich Hypothesen anführen, ohne diese beweisen zu müssen; wer aber behauptet, daß es sich beim Hirntod wahrscheinlich um eine der sichersten Diagnosen überhaupt handle,[10] sollte in der Lage sein, jeden vernünftigen Zweifel nicht mit Wahrscheinlichkeit, sondern mit nach menschlichem Ermessen höchstem Maß an Sicherheit auszuräumen.
|
Dem Einwand, Hirntod bedeute nicht den nachgewiesenen Tod jeder einzelnen Hirnzelle - versprengte deefferenzierte und deafferenzierte Zellinseln könnten noch existieren[11] -, muß widersprochen werden: Erstens würden dann die Kriterien aufgeweicht und nur noch für Experten durchschaubar, zweitens handelt es sich bei den genannten Strukturen nicht um einzelne Zellen, sondern komplexe neuronale Funktionseinheiten.
|
Siehe: intermediäres Leben
In diesem Zusammenhang fällt auf, daß die meisten Hirntodbefürworter, vor allem aber offizielle Verlautbarungen der Bundesärztekammer, kritische Literatur zum Thema Hirntod praktisch nicht zitieren.
|
So wie kaum ein Kritiker offizielle Dokumente oder gar die gemeinsamen Erklärungen nennt.
Kritische Arbeiten wie die von Evers und Byrne,[12] Halevy und Brody.[13] Truog und Fackler[14] oder Veatch[15], um nur einige Beispiele zu nennen, entgehen deshalb dem Leser, der sich allein durch die Lektüre der offiziellen Verlautbarungen der Bundesärztekammer ausgewogen informiert fühlt.
|
Oduncu übernimmt eine ähnliche Auffassung von Frowein offenbar ungeprüft und führt aus, daß Unstimmigkeiten bezüglich der Hirntod-Diagnose entweder auf eine unvollständige Befunderhebung oder Nichteinsatz ergänzender Geräteuntersuchungen zurückzuführen seien.[16] Beides wiederum trifft für die von ihm als Beweis für diese Behauptung zitierte Arbeit von Nau und Mitarbeitern[17] keinesfalls zu: Diese haben im Gegenteil nach völlig korrekter klinischer Befunderhebung gemäß den offiziellen Hirntod-Kriterien des wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur Absicherung der Diagnose weitaus mehr technische Hilfsmittel als vorgeschrieben eingesetzt: So konnten sie beispielsweise einen Patienten mit einer Großhirnblutung beschreiben, der nach klinischen und elektroenzephalographischen Kriterien eindeutig hirntot war (zu diesem Zeitpunkt hätten sie gemäß den Richtlinien des wissenschaftlichen Beirates den Tod offiziell diagnostizieren und bei vorliegender Einverständniserklärung der Angehörigen ohne weiteres Organe entnehmen können). Angiographisch hatte dieser Patient aber eindeutig eine Füllung der intrazerebralen Arterien (die Gefäßdarstellung war selbstverständlich nach der klinischen und elektroenzephalographischen Untersuchung vorgenommen worden): Mit anderen Worten, nach dem Verständnis der Bundesärztekammer lebte er noch.
|
Läßt man alle vorstehenden Einwände außer acht, nimmt also an, daß es tatsächlich möglich sei und auch angestrebt werde, den Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen nachzuweisen, bliebe noch die Frage, ob die auf diesem Wege erzielte Diagnose des Hirntodes wirklich einer adäquaten Definition entspreche, die als Tod des Menschen akzeptiert werden müsse. Dies bejaht Birnbacher, indem er ausführt, daß der Mensch in seiner leiblich-seelischen Ganzheit tot sei, wenn über den irreversiblen Verlust der Bewußtseinsfähigkeit hinaus die Fähigkeit zur Integration und zentralen Steuerung seiner Körperfunktionen irreversibel erloschen sei. Ein solcher Mensch existiere praktisch nur noch mit einer Stammhirnprothese (also der Beatmung), was die Voraussetzung für das Attribut "Leben"[18] nicht erfülle.
|
Siehe: irreversibles Leben, Todesverständnis
Birnbacher selbst versucht, diesen Vorwurf zu entkräften, indem er argumentiert, daß seiner Ansicht nach tatsächlich die Frage, ob die "äußere Programmierung über das Gehirn" oder "unter Umgehung des Gehirns" (Kursivdruck im Original) erfolge, ausschlaggebend sei. Das Gehirn sei zentral, weil eben die individuelle Identität des Menschen an die Identität des Gehirns gebunden sei.56 Daran ist jedoch zu kritisieren, daß diese Behauptung nicht für den Hirnstamm zutrifft. Dieser ist durch die Wirksamkeit seiner vegetativen Funktionen erst die Voraussetzung für die Entstehung und Entfaltung menschliche Personalität. Es wäre durchaus vorstellbar, daß bei (faktisch nicht möglicher) Transplantation des Stammhirns keine Änderung der Identität des betroffenen Menschen im Gegensatz zu einer Verpflanzung von Großhirnanteilen erfolgen würde. Eine Privilegierung der vegetativen Funktionen des Stammhirns gegenüber den vegetativen Funktion des Herz- und Kreislaufsystems für die Zuschreibung der Eigenschaft "Leben" ist deswegen nicht zwingend.
|
Man mag an dieser Stelle einwenden, daß doch ohne Zweifel Bewußtsein, Empfindung, Denken und Fühlen eindeutig Leistungen sind, die eine zumindest partiell funktionierende Großhirnrinde voraussetzen. Bedeutet nicht folglich der alleinige Nachweis des Hirnstammausfalls, daß noch Empfindungen möglich sind? Dieser Eindruck kann zweifellos entstehen, wenn man liest, daß angeblich im Zustand des Hirnstammtodes eine theoretisch erhaltene Seh- und Geruchswahrnehmung vorkommen könne.[19] Dies würde bedeuten, daß in Großbritannien (wo ein Patient mit irreversibel erloschenen Hirnstammfunktionen als tot gilt[20]) Menschen mit noch möglicherweise erhaltener Wahrnehmungsfähigkeit als Organspender fungieren - eine wahrlich erschreckende Vorstellung.
|
Würde man hier etwa einwenden, daß zur Effektuierung einer übergeordneten Einheit des Lebewesens in seiner funktionellen Ganzheit lediglich das erhaltene Bewußtsein unverzichtbar sei, so wäre tatsächlich die richtige Konsequenz, Menschen im apallischen Syndrom (die eben ohne technische Unterstützung noch selbständig atmen können) als Tote anzusehen.
|
Daher: Gesamthirntod = Großhirn + Kleinhirn + Hirnstamm
Die sehr fundierte britische Kritik an dem Konzept des whole brain death und die Grundüberlegungen, die zum Konzept des Hirnstammtodes geführt haben, werden, wie oben dargelegt, gelegentlich falsch verstanden. C. Pallis ging davon aus, daß, wer sich Gedanken um den Hirntod mache, zunächst die Frage zu beantworten habe, was denn so unverzichtbar mit dem "Leben" verknüpft sei, daß sein Fehlen "Tod" bedeute. Erst die Beantwortung dieser Frage liefere eine Idee, ein Konzept, eine Definition dessen, was unter Tod zu verstehen sei. Auf einer zweiten, von dieser übergeordneten Idee determinierten Ebene könnten dann Kriterien diskutiert werden, die zeigten, daß dem Konzept Rechnung getragen wurde. Danach folgten auf einer dritten Ebene die medizinischen Tests, deren Erfüllung die Beachtung der Kriterien anzeige.
|
Neuropathologische Untersuchungen haben gezeigt, daß die vereinfachte Vorstellung einer vollständigen Großhirnschädigung bei apallischen Patienten nicht zutrifft und diese vielmehr durchaus funktionierende Großhirnanteile aufweisen. Kinney und Mitarbeiter fanden beispielsweise bei der Untersuchung des Gehirns einer apallischen Patientin im Bereich der Insel, des Gyrus cinguli und des orbitofrontalen Kortex nur mäßige bis moderate Neuronenverluste.
|
Shewmon hat somit nachgewiesen, daß selbst die Tendenz zur Asystolie bei Hirntoten vorübergehend sein kann. Seine Begründung, daß dieser Sachverhalt nicht früher aufgeklärt wurde, ist einleuchtend: Hirntoten Patienten wurden entweder Organe entnommen oder die künstliche Beatmung wurde beendet; beides beweist, daß die oben genannten Zitate lediglich sich selbst erfüllende Prophezeiungen darstellten. Damit sind auch Argumente wertlos, die behaupteten, daß bei korrekter Hirntod-Diagnose niemals Fälle bekannt geworden seien, die unstimmige Ergebnisse erbracht hätten.
|
Alan Shwemon zeigt in seiner Studie auf, dass immer noch die meisten in den ersten Wochen nach Feststellung des Hirntodes einen Herzstillstand erleiden. Die Aussage der "sich selbst erfüllende Prophezeiungen" ist damit haltlos. In Anbetracht desssen, dass Alan Shewmon Beispiele von Hirntoten aus der ganzen Welt aus rund 30 Jahren zusammentrug, kann gesagt werden, dass, gemessen an der Gesamtzahl der weltweiten Hirntoten in diesen Jahren, diese 175 eine absolute Rarität sind, die nicht verallgemeinert werden darf. Siehe: Alan Shewmon
Das Konzept vom Ganz-Hirntod als irreversiblem Ausfall aller Hirnfunktionen und als Verlust der integrativen Steuerung des Gesamtorganismus ist empirisch widerlegt.
|
Sie ist nicht widerlegt, sondern relativiert.
Trotz scharfer Kritik am Hirnstammtod-Konzept von deutscher Seite muß festgehalten werden, daß die Beachtung der hierzulande gültigen Kriterien zur Feststellung des Hirntodes auch nur die Feststellung des Ausfalls der Hirnstammfunktionen erfordern.
|
Bei einer infratentoriellen Hirnschädigung, d.h. unterhalb des Großhirns, ist ein Null-Linien-EEG oder ein Nachweis des zerebralen Zirkulationsstillstandes erforderlich.
Die Vorstellung, daß nach der Diagnose des Hirnstammtodes oder Hirntodes nur noch ein kurzfristiges "weitervegetieren" möglich ist und die Asystolie innerhalb kurzer Zeit unweigerlich folgt, muß aufgegeben werden, da offenkundig somatisch integrative Funktionen ein funktionierendes Gehirn nicht voraussetzen.
|
Die Aussage muss nicht aufgegeben, sondern nur relativiert werden.
Die Vorstellung, ein Mensch im apallischen Syndrom (persistent vegetative state) sei tot, muß zurückgewiesen werden, da erstens die Reversibilität dieses Syndroms nicht auszuschließen ist und zweitens in diesem Zustand noch bewußte Empfindungen zumindest theoretisch denkbar sind.
|
Anhang
Anmerkungen
- ↑ Es wurde an dieser Stelle das englische Original wiedergegeben: "The 'cessation of all functions of the entire brain' is, quite simply, something that is impossible to determine. No available technique or combination of techniques can ever hope to assess 'all functions of the entire brain"
Einzelnachweise
- ↑ Martin Klein: "Auch die Toten sind nicht mehr sterbenskrank" * Die Auseinandersetzung um den Hirntod - eine Bilanz. (01.12.2007) Nach: https://web.archive.org/web/20160416120158/http://initiative-kao.de/vortrag-m-klein-01-12-07-hirntod-auseinandersetzung-bilanz.html Zugriff am 02.05.2020.
- ↑ SCHRADER/KROGNESS/AAKVAAG (1980), S. 245.
- ↑ Zit. nach: SOLOVEICHIK (1979), S. 297f.
- ↑ SOEMMERING (1795). S. 63.
- ↑ WALKER (1977), S. 982.
- ↑ BIRNBACHER(1997), S. 65.
- ↑ GRIGG-DAMBERGER/CELESIA/KELLY (1989), S. 604.
- ↑ GRIGG/KELLY/CELESIA (1987), S. 948.
- ↑ SCHLAKE/ROOSEN (1995), S.23.
- ↑ SCHLAKE/ROOSEN (1995), S.56.
- ↑ ARNOLD (1976). S. 532.
- ↑ EVERS/BYRNE (1990). S. 10 12.
- ↑ HALEVY/BRODY (1993). S. 519..525.
- ↑ TRUOG/FACKLER (1992), S. 1705..1713.
- ↑ VEATCH (1993). S. 18-24.
- ↑ ODUNCU (1998), S. 75.
- ↑ NAU/PRANGE/KLINGELHÖFER (1992). S. 84.
- ↑ BIRNBACHER (1997). S. 68.
- ↑ SCHLAKE/ROOSI:N (1998). S.48.
- ↑ PALLIS/HARLEY (1996), S. 26f.