Hirnstammtod
Beim Hirnstammtod muss der Hirnstamm abgestorben sein, damit jemand als tot gilt. Der Grundgedanke dieser Definition ist, dass mit dem Tod des Hirnstamms das Atemzentrum irreversibel ausgefallen ist, d.h. dieser Mensch wird nie wieder selbstständig atmen. Dies stellt eine mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzung dar.
Diese Definition ist gültig in einigen Statten der USA,[Anm. 1] in Großbritannien[Anm. 2], Polen[1] und Israel[2] |
Allgemeines
Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. (Gen 2,7) |
Von dieser Bibelstelle ausgehend ist für Juden die Eigenatmung das Lebenszeichen schlechthin. Nachdem dem obersten Rabbinat in Israel deutlich gemacht wurde, dass mit dem Hirnstammtod der Mensch seine Fähigkeit des eigenständigen Atmens für immer verloren hat, billigte dieses bereits 1987 den Hirnstammtod als Todeskriterium.[3]
"Der Mensch ist noch nicht tot, auch wenn sein Zustand irreversibel ist", erklärte Landesrabbiner Joel Berger noch im Jahr 2000 als Sprecher der deutschen Rabbinerkonferenz vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestages. Auch Rabbiner Schlomo Salem Auerbach, eine hohe rabbinische Autorität, argumentierte: "Es ist verboten, Organe zur Transplantationszwecken zu entnehmen, solange das Herz schlägt. Dies ist sogar dann verboten, wenn es zu Gunsten einer kranken Person geschehen würde, die vor uns liegt und sicherlich sterben wird."[4] Solche Äußerungen hatten großen Einfluss auf die Spendebereitschaft bei der Organspende. Daher entschied die Knesset im Jahr 2008, dass in Israel mit dem Hirnstammtod der Mensch tot ist.[5]
Organtransplantation ist heute im liberalen Judentum als lebensrettende Maßnahme und daher als besondere Mizwe respektiert und genehmigt.[4]
Adam Geremek gibt an, dass im Jahre 2009 es in 80 Staaten legale Standards, meist im Rahmen von Transplantationsgesetzen, über die Definition des Hirntodes gibt. In 70 von 80 Ländern gibt es medizinische Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes. Uneinheitlich ist es in den USA. So können in Alaska und Gegia die Feststellung des Hirntodes an das Pflegepersonal delegiert werden, muss aber von einem Arzt 24 Stunden später verifiziert werden.[6]
Im Jahr 1971 betonten die beiden Neurochirurgen A. Mohandas und S. N. Chou bei der HTD die Bedeutung des Hirnstammes. In den folgenden Jahren wurden die klinischen Merkmale festgelegt und man behauptete, dass der Atemstillstand, der Verlust der Hirnfunktion und Hirnstammreflexe ein zunehmendes Hirntod-Kriterium sei. Im Jahr 1975 wurde der Hirnstammtod in Großbritannien als Todeskriterium angenommen.[7]
Devaraj V Raichur: "In Großbritannien und Indien wird der 'Hirnstammtod' - dauerhafter Verlust aller Funktionen des Hirnstamms - gesetzlich verwendet, um dem Tod zu entsprechen. Dies basiert auf dem Argument, dass der Hirnstamm es dem Gehirn ermöglicht, als Einheit zu funktionieren."[8]
Informationen
Nach einer schweren Schädigung des Hirnstammes kann die Durchblutung des Großhirns erhalten bleiben und damit auch dessen Funktion - zumindest teilweise - die Hirnstamm-Areflexie Stunden, Tage oder gar Wochen überdauern. Dies lässt sich medizinisch nachweisen, z.B. durch ein EEG. "Dabei ist die Frage völlig offen, was eine solche isolierte, ausschließlich apparativ erfassbare Aktivität der Hirnrinde für den betroffenen Menschen eigentlich bedeutet. Dieser ist ja durch den Ausfall des Hirnstamms nicht nur von jeglichen Einflüssen aus der Umgebung abgeschnitten, sondern durch den Ausfall der der (ebenfalls im Hirnstamm lokalisierten) Formatio reticularis (...) nicht wach, kann aber auch nicht schlafen, wohl auch nicht denken oder träumen. Aufgrund dieser - aller Wahrscheinlichkeit nach unbeantwortbaren - Frage wurde der Hirnstamm-Tod nach den Richtlinien der Bundesärztekammer nicht in das Ganzhirntod-Kriterium einbezogen und in jedem Fall einer primär-infratentorellen Hirnschädigung die zusätzliche Ableitung eines 'Null-Linien-EEG' oder der Nachweis eines zerebralen Perfusionsstillstandes zwingend vorgeschrieben."[9]
Aus Hochschulschriften
Durch den Ausfall auf- und absteigender Nervenbahnen ist jedenfalls die sensible und motorische Verbindung des Großhirns zum restlichen Körper unterbrochen. Der betroffenen Person fehlt, auf Grund der geschädigten Formatio reticularis, jeglicher Wach-Schlaf-Rhythmus, ohne Wachheit dürfte auch kein Bewusstsein und Denken, ohne Schlaf kein Träumen möglich sein.[10] |
Darüber, was die erhaltende Großhirnaktivität jedoch für den Patienten im Genauen bedeutet, kann nur spekuliert werden. Auch aus dieser Unsicherheit heraus hat sich in Deutschland das Hirnstammtodkonzept nicht durchgesetzt.[11] |
Aus anderen Nationen
USA
Kinesiana schrieb am 18.07.2013 über den Hirntod, dass in den USA 500 Neurologen zum Hirntod schriftlich befragt worden seien. Hiervon hätten 44% geantwortet. Für 27% der antworteten Neurologen ist der Hirntod dem Tod gleichzusetzen. "Viele Neurologen antworteten, dass gewisse noch bestehende Hirnfunktionen nicht mit dem Hirntod vereinbar seien – wie z. B. EEG-Aktivität, evozierte Potenzialaktivität sowie weiterhin bestehende neuroendokrine Funktionen des Thalamus (Hormon-Stoffwechsel). Für viele der befragten Ärzte ist ein noch vorhandener Blutfluss im Gehirn ebenso wenig mit der Diagnose Hirntod kompatibel wie ein nicht vollständig zerstörter Hirnstamm."[12]
Wenn in D/A/CH noch ein EEG abgeleitet werden kann, ist dies der Nachweis, dass hier (noch) kein Hirntod vorliegt. Gleiches gilt für evozierte Potenzialaktivität und Durchblutung des Gehirns. - Dies ist jedoch beim Hirnstammtod möglich.
Komatöse und pseudo-komatöse Zustände im Vergleich zu Hirntod
Hirntod im Vergleich zu anderen komatösen und pseudo-komatösen Zuständen:[13]
Bewusstsein Selbstwahrnehmung |
Schmerz- empfinden |
Schlaf-Wach- Zyklen |
motorische Funktionen |
Hirnstamm- reflexe |
respiratorische Funktion |
Prognose | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
akinetischer Mutismus | partiell vorhanden, deutlich gestört | intakt, aber keine Schmerzabwehr | vorhanden, zum Teil gestört | keinen spontane Motorik | intakt | intakt | im Allgemeinen gut |
apallisches Syndrom | nicht vorhanden | nicht erkennbar | zumeist intakt | keine bewusste, zielgerichtete Motorik | intakt | intakt | abhängig von der Ätiologie |
Koma | nicht vorhanden (Definition!) | abhängig von Komatiefe | abhängig von Komatiefe | keine bewusste, zielgerichtete Motorik | vorhanden oder partiell erloschen | unterschiedlich gestört | abhängig von der Ätiologie |
Locked-in-Syndrom | intakt | intakt | intakt | Quadriplegie, nur Augenbewegungen | intakt | (zumeist) intakt | zumeist infaust |
Anenzephalie | nie vorhanden* | nie vorhanden* | ? | keine bewusste, zielgerichtete Motorik | abhängig von Ausprägung | abhängig von Ausprägung | immer infaust |
Hirnrinden-Tod | erloschen | erloschen | nein | keine bewusste, zielgerichtete Motorik | intakt | (zumeist) intakt | immer infaust |
Hirnstamm-Tod | erloschen(?) | erloschen | nein | keine oder spinale Reflexmotorik | erloschen | erloschen | immer infaust |
Hirntod | erloschen | erloschen | nein | keine oder spinale Reflexmotorik | erloschen | erloschen |
nie vorhanden* = Bei Anenzephalie waren Großhirn und Kleinhirn nie angelegt. Daher waren diese Funktionen auch nie vorhanden.
Basiskriterien zur Beurteilung der Hirnstammfunktionen
Basiskriterien zur Beurteilung der Hirnstammfunktionen und Hirnstammreflexe[14]
Mittelhirnsyndrom | Bulbärhirnsyndrom | |||||
---|---|---|---|---|---|---|
Stadien | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 |
Vigilanz | leichte Somnolenz | tiefe Somnolenz | Koma | Koma | Koma | Koma |
Reaktion auf sensorische Reize | verzögert, mit Zuwendung | vermindert, ohne Zuwendung | keine Reaktion | keiner Reaktion | keine Reaktion | keine Reaktion |
Bulbus | normal, pendelnd | beginnende Divergenz, dyskonjugiert | Divergenz fehlt | Divergenz fehlt | Divergenz fixiert, fehlt | Divergenz fixiert, fehlt |
Pupillenweite | mittelweit | verengt | eng | mittelweit, erweitert | erweitert | maximal weit |
Lichtreaktion | normal | verzögert | träge | vermindert | fast fehlend | fehlt |
Spontanmotorik | Wälzbewegungen | Bewegung der Arme, Streckhaltung der Beine | Beuge- und Streckhaltung | Streckhaltung | Restsymptomatik nach Streckhaltung | schlaffe Haltung |
Motorische Reaktion auf Schmerzreize im Gesicht | prompt, Abwehr gerichtet | verzögert, Abwehr ungerichtet | Beuge-Streck-Stellung | Strecksynergismen | Restsymptomatik nach Strecksynergismen | spinale Automatismen |
Muskeltonus | normal | in den Beinen erhöht | erhöht | stark erhöht | gering erhöht | schlaff |
Babinski-Phänomen | angedeutet | nachweisbar | stark positiv | stark positiv | fraglich | negativ |
Atmung | normal | normal oder flach mit Pausen | flach mit Pausen | sehr stark | unregelmäßig | keine Eigenatmung |
Pulsfrequenz | steigend bis 90 | steigend bis 90 | steigend bis 120 | steigend über 150 | fallend auf 100, schwankend | fallend auf 80, schwankend |
Blutdruck | normal | normal | leicht erhöht | deutlich erhöht | vermindert | stark vermindert |
Temperarur | normal | erhöhöt | erhöht bis 39°C | stark erhöht bis über 39°C | sinkend auf 39°C | sinkend auf unter 37°C |
Vom Mittelhirnsyndrom zum Bulbärhirnsyndrom
Klinische Symptomatik des Mittelhirnsyndroms (MHS) hin zum Bulbärhirnsyndrom (BHS)[15]
Symptom/Prüfung | Mittelhirnsyndrom | Übergangsphase | Bulbärhirnsyndrom |
---|---|---|---|
Bewusstsein, Vigilanz | Koma | Koma | Koma |
Blinzelreflex | keiner | keiner | keiner |
Arme, Beine | gestreckt | Rückgang der Streckstellung | schlaff |
Bewegungen | Streckkrämpfe, Streckstarre | keine | keine |
Schmerzreize | Strecksynergismen, verstärkt gestreckt | keine oder Strecksynergismen auslösbar | keine |
Muskeltonus | stark erhöht, 'als ob der Patient aktiv gegenspannt' | Rückgang der Muskelhypertonie, zuerst an Armen | atonisch |
Muskeleigenreflexe | Hyperreflexe | abgeschwächt | keine |
Pyramidenbahnzeichen | ja | ja | keine oder schwache |
Bulbusstellung | deutliche Divergenz | Divergenz | Divergenz |
Bulbusbewegung | keine | keine | keine |
Pupillen | mittelweit, weit | weit | maximal weit |
Lichtreaktion | deutlich vermindert | noch angedeutet | keine |
Kornealreflex | ja | schwach | keiner |
Ziliospinaler Reflex | nein | nein | nein |
Okulozephaler Reflex | vermindert | nein | nein |
Vestibulookulärer Reflex | mit dissoziierter Reaktion | nein | nein |
Atmung | Tachypnoe, maschinenartig | beschleunigt, flach | Apnoe |
Pulsfrequenz | Tachykardie | beschleunigt, flach | Abfall bis Bradykardie |
Blutdruck | Hypertonus | Rückgang ((RR-Abfall) | Hypotonie |
Temperatur | Hypertermie | Rückgang (Temperaturabfall) | leicht erhöht, normal |
Schweißsekretion | Hyperhidrosis | Hyperhidrosis |
Anhang
Siehe auch: Definitionen des Hirntods
Anmerkungen
- ↑ In 6 der 50 US-Staaten gilt der Hirnstammtod als Hirntod. In 44 US-Staaten gilt der Gesamthirntod als Hirntod. "Americain countries generelly follow the United States position on whole brain death". Zitiert nach: Eelco F. M. Wijdicks: Brain death worldwide. Accepted fact but no global consensus in diagnostic criteria. In: Neuology (2002/58), 20-25.
- ↑ Zusammen mit Großbritannien haben auch die ehemaligen Kolonien und Comonwealth-Staaten (z.B. Indien und Australien) diese Definition des Hirntodes übernommen.
Einzelnachweise
- ↑ Adam Geremek: Wachkoma: Medizinische, rechtliche und ethische Aspekte. Köln 2009, 21.
- ↑ http://www.israelnetz.com/gesellschaft/detailansicht/aktuell/neue-gesetzgebung-soll-organspenden-foerdern-12326/?print=1 Zugriff am 26.11.2016.
- ↑ https://rh.aok.de/fileadmin/user_upload/Universell/05-Content-PDF/entscheidungshilfe_organspende.pdf Zugriff am 26.11.2016.
- ↑ a b http://www.juedisches-europa.net/archiv/2008/organe Zugriff am 26.11.2016.
- ↑ http://www.israelnetz.com/gesellschaft/detailansicht/aktuell/neue-gesetzgebung-soll-organspenden-foerdern-12326/?print=1 Zugriff am 26.11.2016.
- ↑ Adam Geremek: Wachkoma: Medizinische, rechtliche und ethische Aspekte. Köln 2009, 21.
- ↑ Robert Kieltyka: Der Umgang mit Wachkoma-Patienten Ein moraltheologischer Beitrag zu einer aktuellen Debatte. Freiburg 2006, 19. Nach: https://doc.rero.ch/record/6198/files/KieltykaR.pdf Zugriff am 15.03.2017.
- ↑ "Brain death or ‘whole brain death’ implies that all functions of the cerebrum and brainstem are lost and has been accepted legally as equal to death of a person in the USA and many other countries. In the UK and India, the ‘brainstem death’– permanent loss of all the functions of the brainstem – is used legally to be equivalent to death. This is based on the argument that brainstem allows the brain to function as a unit, and the bedside clinical tests to diagnose brain death focus on brainstem function."
Devaraj V Raichur: Brain death: Practical approach. In: Indian Journal of Practical Pediatrics 2012. 14(3): 326, Seite 91. Nach: http://ijpp.in/admin/uploadimage/Vol.14%20No.3.pdf Zugriff am: 22.5.2017. - ↑ Hans-Peter Schlake, Klaus Roosen: Der Hirntod als der Tod des Menschen. 2. Auflage. Neu-Isenburg 2001, 70.
- ↑ Aline Schöller: Der Hirntod als Todeskriterium und Voraussetzung für eine Organtransplantation: Die Entwicklung der ethischen Diskussion unter Berücksichtigung aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. (med. Diss.) Tübingen 2015, 30.
- ↑ Aline Schöller: Der Hirntod als Todeskriterium und Voraussetzung für eine Organtransplantation: Die Entwicklung der ethischen Diskussion unter Berücksichtigung aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. (med. Diss.) Tübingen 2015, 30.
- ↑ Kinesiana: Wie stehen Neurologen zum Hirntod? Nach: https://hirntoddebatte.wordpress.com/2013/07/18/wie-stehen-neurologen-zum-hirntod Zugriff am 12.07.2017.
Als Quelle wurde angegeben: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3310851 - ↑ Hans-Peter Schlake, Klaus Roosen: Der Hirntod als der Tod des Menschen. 2 Auflage. Neu-Isenburg 2001, 72.
==== Die gelb markierten Zustände wurden von Klaus Schäfer ergänzt. - ↑ Walied Abdulla: Interdisziplinäre Intensivmedizin. 3. Auflage. München 2007, 650.
- ↑ Dietmar Schneider: Der hirntote Patient. In: Sven Berker, Sven Laudi, Udo X. Kaisers (Hg.): Intensivmedizin konkret. Fragen und Antworten. Köln 2016, 679f.